Protocol of the Session on May 25, 2007

Zweitens. Kein Mensch kann absolut sicher sein, niemals selbst Flüchtling zu werden. Das hat das UN-Flüchtlingshilfswerk mit einer seiner letzten Kampagnen eindrucksvoll gezeigt. Im Rahmen dieser Kampagne wurden Prominente wie etwa die ehemalige amerikanische Außenministerin Frau Albright gezeigt, die selbst ein Flüchtlingsschicksal erleiden musste.

Schulen, die von Flüchtlingskindern besucht werden, vertiefen das Thema Flucht und Vertreibung oft über den regulären Unterricht hinaus in Projekttagen. Dabei wird vielfach auf Materialien von Flüchtlingsorganisationen zurückgegriffen, zum Beispiel auf das vom UN-Flüchtlingshilfswerk konzipierte Online-Spiel „Last Exit Flucht“. Damit können Jugendliche den Weg eines Menschen nachempfinden, der vor Menschenrechtsverletzungen im Heimatland flieht und in der Fremde ohne Hab und Gut neu anzufangen hat.

Wir wollen Lehrern, die sich diesem Thema mit ihren Schülern intensiver widmen möchten, eine Handreichung anbieten. Um Doppelarbeiten zu vermeiden, soll sich die Landesregierung bei der Entwicklung an bewährten Materialien anderer

Bundesländer orientieren – der geschätzte CDUKollege hat darauf hingewiesen – und das vorhandene Angebot der Akteure für Flüchtlinge einbeziehen.

Wir nehmen die Probleme der Flüchtlinge ernst. Wir wollen Menschen für ihr Schicksal sensibilisieren, belassen es dabei aber nicht. Mit einem liberalen Innenminister hat Nordrhein-Westfalen erstmals spürbare Verbesserungen für insbesondere lang hier lebende Flüchtlinge geschaffen. Durch die Vereinbarungen der sogenannten Bleiberechtsregelung helfen wir vielen Menschen, dauerhaft bei uns bleiben und hier eine zukünftige Perspektive finden zu können. Diese Menschen sollen ebenso wie die ehemals Heimatvertriebenen Botschafter für eine gelingende Integration werden. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von FDP und CDU)

Danke schön, Herr Lindner. – Für die SPD spricht die Kollegin Frau Schneppe.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren. Trecks zerlumpter Menschen in den verschneiten Pässen Afghanistans, vor den Küsten Südostasiens umherirrende Schiffe, von Piraten ausgeraubt und von feindseligen Patrouillenbooten aufgebracht, boat people aus Vietnam, überfüllte Boote mit kubanischen Emigranten vor den Küsten Floridas, Lager im thailändischkambodschanischen Grenzgebiet, in der Westsahara, im Libanon, in Botswana, im Sudan – diese Liste ließe sich fortführen. Das sind Bilder von Flüchtlingstragödien, die die Welt der Gesicherten und Gesättigten erreichen.

Auf 50 Millionen wird die Zahl der Flüchtlinge im Augenblick weltweit geschätzt. Dabei dürften die Annahmen eher zu niedrig als zu hoch liegen, und die Tendenz weist eindeutig nach oben. Wir leben im Jahrhundert der Fluchtbewegungen und Vertreibungen.

Vertreibung, Flucht und Entwurzelung sind ein uraltes Phänomen der Menschheitsgeschichte. Die Flucht und Vertreibung von mehr als zwölf Millionen Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße sind allerdings in den Gesamtzusammenhang der deutschen und europäischen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts einzuordnen und sollten nicht singulär, sondern im historischen und aktuellen Kontext betrachtet werden.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Erinnert sei an die Verfolgungen des Judentums seit 2.000 Jahren in verschiedenen Ländern. Erinnert sei an die beachtliche Zahl von Glaubensflüchtlingen in der frühen Neuzeit: Rund 150.000 Protestanten mussten während des 30-jährigen Krieges Österreich und Böhmen verlassen und fanden Aufnahme in den evangelischen Territorien Süddeutschlands. Puritaner, Mennoniten und andere religiöse Gruppen aus Europa suchten im 17. Jahrhundert in Amerika eine neue Heimat.

Erinnert sei schließlich an die Fluchtwelle aus politischen Gründen, die erfolgreiche oder auch gescheiterte Revolutionen seit 1789 in Europa auslösten.

So hart das Schicksal im Einzelnen den Flüchtlingen mitspielte, im Hinblick auf das Ausmaß von Flucht und Vertreibung stellt das 20. und 21. Jahrhundert alles bisher Dagewesene in den Schatten, zum Beispiel die Tragödie der Armenier, eines christlichen Volkes, das seit 2.000 Jahren im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Russland lebt. Schon 1895 und 1896 waren bei den Massakern 200.000 Armenier umgekommen. 1915 schließlich wurde die armenische Minderheit auf dem Boden des osmanischen Reichs nahezu ausgerottet. Von den 1,8 Millionen Armeniern blieben 600.000 verschont oder konnten sich über die Grenzen retten. 1,2 Millionen Menschen verloren auf grauenhafte Weise ihr Leben. Heute leben in der Türkei nur noch 60.000 Angehörige des armenischen Volkes.

In der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg flohen etwa 1 Million Menschen aus ideologischen Gründen vor den Bolschewiken aus Russland. Bald darauf setzte nach den faschistischen Machtergreifungen in Italien, Deutschland und Spanien die Emigration politisch Verfolgter ein. Parallel dazu kam es zwischen 1933 und 1939 – so lange es noch möglich war – zu einem Exodus von rund 340.000 Juden in Deutschland.

Der Zusammenbruch des Dritten Reiches löste dann eine der größten Völkerwanderungen der Geschichte aus: Zwischen 1944 und 1951 wurden in Europa 20 Millionen Menschen verschleppt, verjagt, evakuiert und umgesiedelt. Hauptleidtragende waren die Deutschen mit 12,5 Millionen Menschen, gefolgt von etwa 4,5 Millionen Polen.

So vielfältig dabei die Motive für die Flucht auch sein mögen, den äußeren Anlass bildeten immer die Zwangssituationen im Gefolge der weit mehr als 150 Kriege, die die Welt seit 1945 nicht zur Ruhe kommen ließen.

(Beifall von der SPD)

Äußerlich mag es große Unterschiede unter den Flüchtlingen geben, in einigen Merkmalen gleichen sie sich alle: Jeder politische Flüchtling ist das Opfer einer Zwangssituation. Er muss wählen zwischen der Unterdrückung in der Heimat und der Freiheit in der Fremde. Dabei sieht er in der Flucht und ihren Folgen das kleinere Übel. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Jeder Flüchtling leidet unter seiner Entwurzelung.

(Beifall von der SPD)

Die Zunahme kriegs- und bürgerkriegsähnlicher Zustände in verschiedenen Teilen der Welt ließ den Strom der Flüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland seit Mitte der 70er-Jahre erheblich anschwellen. Abgenommen haben Toleranz und Aufnahmebereitschaft in der deutschen Bevölkerung bedauerlicherweise. In breiten Schichten überwiegen Furcht vor ansteigender Kriminalität sowie die Vorstellung von einer unnötigen Belastung der öffentlichen Kassen.

Analog erinnere ich daran, dass in der frühen Nachkriegszeit die Vertriebenen keineswegs überall willkommen waren. Zunächst hatten die Vertriebenen Mühe, ihre Anliegen in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Dieser Prozess hat nahezu zwei Jahrzehnte gebraucht. Heute kommen weniger Flüchtlinge nach Deutschland. Suchten 1992 noch fast eine halbe Million Menschen hierzulande Asyl, waren es im vergangenen Jahr nur noch 100.000. Und die Zahl der Abgeschobenen steigt.

Vor diesem Hintergrund weise ich wiederholt auf die Wichtigkeit hin, dass die Flüchtlingsproblematik im Geschichts- oder Politikunterricht, in der Erwachsenenbildung und als Angebot der Landeszentrale für Politische Bildung sowohl unter nationalen als auch unter internationalen Aspekten behandelt werden muss.

(Beifall von der SPD)

Ich komme zum Schluss. Nach den erwähnten Zahlen sollten Verständnis, Toleranz und Solidarität für Menschen auf der Flucht, wo immer sie sich aufhalten oder eine neue Heimat suchen, für jeden von uns einen hohen Stellenwert haben.

(Beifall von der SPD)

Danke schön, Frau Schneppe. – Frau Düker von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der Kollegin von der SPD-Fraktion ausdrücklich dankbar dafür,

dass sie das Thema Flucht und Vertreibung in einen historischen Kontext gesetzt hat

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

und auch sehr ausführlich und, wie ich finde, sehr richtig dargelegt hat, dass wir, wenn wir über Flucht und Vertreibung reden, auch die Ursachen insgesamt in Europa und weltweit in den Blick nehmen müssen, um dann zu überlegen, wie wir mit den Betroffenen von Flucht und Vertreibung in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland umgehen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, da kommen mir an der einen oder anderen Stelle Ihres Vortrages, Herr Kollege, einige Bedenken, ob man eine Gruppe wirklich herausnehmen sollte – allein nach der Wende hatten wir 3 Millionen Aussiedler, die aus Osteuropa zu uns gekommen sind – oder ob wir dieses Thema insgesamt mit allen Betroffenen in den Blick nehmen sollten.

Da bin ich bei einem Thema von Flucht und Vertreibung in Europa, das sich eigentlich erst in den letzten zehn bis zwanzig Jahren ereignet hat: der Bürgerkrieg auf dem Balkan. Noch immer bin ich von einer viertägigen Reise beeindruckt, die der Innenausschuss in der letzten Woche in den Kosovo unternommen hat. Ich kann nur allen sagen: Noch vor sehr kurzer Zeit hat mitten in Europa Flucht und Vertreibung in einem großen Ausmaß stattgefunden.

Auch hier ist Deutschland in einer Verantwortung, weil viele von denjenigen, die vertrieben wurden, inzwischen in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben. Um sie müssen wir uns kümmern. Wir können nicht sagen: Wir kümmern uns um die einen, die bei uns eine neue Heimat gefunden haben, und müssen zusehen, dass wir ihre Kultur bewahren – so richtig ich das auch finde –, aber einer anderen Gruppe von Vertriebenen, die zum Teil vor 15 oder 20 Jahren angekommen sind, sich hier faktisch integriert haben, die hier ihre Heimat sehen, wo sie ihre Kinder groß gezogen haben, sprechen wir dies ab, setzen sie einer zweiten Vertreibung aus und sagen ihnen, dass sie kein Recht auf die Heimat Deutschland haben und dass sie zurück müssen. Das ist ein Messen mit zweierlei Maß.

Flucht und Vertreibung in Europa ist nicht ein Problem, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg ereignet hat, sondern es ist ein dauerhaftes Problem nicht nur weltweit, sondern auch mitten in Europa. Wir müssen die Probleme dieser Menschen ernst nehmen. Denn, wie alle Vorredner und Vorredne

rinnen gesagt haben: Jeder Vertriebene, jeder Flüchtling macht so etwas nicht aus Spaß und leidet unter der Situation. Wir wissen, dass nach den Balkankriegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr viele gesagt haben: Ich möchte wieder in meine Heimat und dort ein neues Leben aufbauen. – Es gibt aber auch sehr viele, die sagen: Dort sind nicht mehr meine Wurzeln; ich habe in Deutschland Wurzeln geschlagen, meine Kinder groß gezogen und fühle mich jetzt hier heimisch. – Diesen Leuten sollten wir auch eine Chance geben.

Herr Schittges

(Winfried Schittges [CDU]: Wieso ich?)

Sie sind gerade im Raum, deswegen spreche ich Sie persönlich an –, auch da haben wir eine moralische Verpflichtung. Wir können nicht wie Sie nach der Kosovo-Reise sagen, dass die 17.000 Kosovo-Albaner in NRW, die zum Teil seit 15 bis 20 Jahren hier leben, alle zurückgeführt werden können, und zwar auch gegen ihren Willen. Es kann nicht sein, dass wir so mit Flucht und Vertreibung mitten in Europa umgehen und diesen Menschen ihre Heimat, die sie hier gefunden haben, verwehren.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Meine Damen und Herren, ich finde Ihr Ansinnen richtig, liebe Kollegen von der CDU-Fraktion, dass wir die Interessen derjenigen, die von Flucht und Vertreibung aus Osteuropa betroffen waren, ernst nehmen, hieran auch erinnern und dies in unser Bildungssystem integrieren. Aber genauso sollten wir gerade aus dieser historischen Verantwortung unsere moralische Verpflichtung für diejenigen aus anderen Ländern dieser Welt ableiten, die in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben, und nicht mit zweierlei Maß messen. Die Menschen, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind, verdienen eine respektvolle, würdevolle Behandlung in Deutschland. Leider ist dies zurzeit nicht der Fall.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Danke schön, Frau Düker. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Breuer.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin dankbar dafür, dass wir über dieses Thema sprechen können. Ich habe jedoch den Eindruck, dass der Antrag bewusst oder unbewusst etwas anders verstanden wird,

als er eigentlich gemeint ist. – Das möchte ich abweichend von meinem Manuskript voranstellen.

Ich glaube, dass es klug ist, die Erinnerung auch in den eigenen, wenn ich das so sagen darf, Erlebnisräumen, in der eigenen Familie wach zu halten. Ich kann das aus meinem eigenen Erleben sagen. Meine Mutter kommt aus Oberschlesien. Ich kenne jede Menge Leute aus dem Raum, die aus dieser Generation kommen und die Bestimmtes erlebt haben. Das Klügste ist nicht, über aktuelle Fälle bei Flucht und Vertreibung zu sprechen oder Zeitungsartikel bzw. Fernsehsendungen zu machen, sondern das Klügste ist, die Erinnerungen der noch lebenden Zeitzeugen in einer entsprechenden Form wach zu halten.

Es ist wichtig, dass wir das Thema Flucht und Vertreibung in den historischen und aktuellen Bezügen an unseren Einrichtungen hinreichend vermitteln. Das ist meiner Meinung nach der Kern der Auseinandersetzung, die wir eigentlich führen sollten. Ich bin davon überzeugt, dass wir – ich kann Ihnen das nur aus privaten Gründen sagen – diesbezüglich erheblichen Nachholbedarf haben.

Als mich meine Kinder gefragt haben: „Wo kommt denn eigentlich die Oma genau her?“, habe ich versucht, ihnen unter Zuhilfenahme alter Geschichtsbücher eine Antwort zu geben. Ich hatte damals noch einen dtv-Atlas zur Geschichte – ich weiß nicht, ob Sie den noch kennen –, und wollte ihnen mithilfe von historisch gesicherten Quellen und nicht am Kaffeetisch antworten. Das ist schwierig. Ich behaupte, es ist fast unmöglich, diesem Thema einen angemessenen Stellenwert einzuräumen.

Insofern ist es wichtig – auch die Redner von SPD und Grünen haben dies betont –, den Zusammenhang wach zu halten. Dies gelingt am besten, wenn man in der eigenen Familie darauf hinweist, wie es den Flüchtlingen und Vertriebenen ergangenen ist. Dann ist auch ein gewisser Hochmut, der manchmal schnoddrig geäußert wird, schnell beseitigt.

Wir haben in dem Europa – das sage ich als Europaminister –, das zusammenwächst, viele Chancen, die jungen Menschen für die Geschichte unseres Kontinents zu interessieren. Wir wollen sie an dieser Stelle neugierig machen und begeistern. Das geht nur, wenn sie selbst Menschen begegnen, die dies erlebt haben, und die Begeisterung wiederum kann nur geweckt werden, wenn sie jemandem begegnen, den sie sehen, tasten, fühlen und hören können.