Protocol of the Session on November 9, 2005

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Dass Sitzenbleiben Lerngruppen homogenisiere, ist wirklich eine eigenwillige Interpretation dieser leider manchmal nicht zu umgehenden Maßnahme. Sie widersprechen sich selbst mit dieser Aussage bei Ihrer späteren Feststellung im Antrag, Frau Beer, dass Sitzenbleiber häufig sehr bald erneut das Schlusslicht einer Klasse bilden.

Aber nun zur Sache! Zu der von Ihnen angemahnten individuellen Förderung habe ich heute Morgen in der Aktuellen Stunde bereits ein paar Worte gesagt. Da haben Sie sich in der Vergangenheit wahrlich nicht als Spezialisten bewährt. Fakt ist, dass eine individuelle Förderung unter RotGrün an unseren Schulen nie wirklich stattgefunden hat,

(Beifall von der CDU)

und wenn sie vereinzelt doch stattgefunden hat, dann deshalb, weil sich einige Lehrer bei allem Aufwand, den das auch bei der bisherigen Lehrerausbildung und -fortbildung bedeutet, in ganz besonderer Weise engagiert haben, und noch dazu gegen den ausdrücklichen politischen Willen der seinerzeit Verantwortlichen.

Die Lehrer mussten nämlich allzu lange Zeit nur hören, dass weniger individuelle Leistungsunterschiede gefragt seien und vielmehr Nivellierung in

den Klassen anzustreben sei. Schön, wenn es in Ihrem Denken nun eine Kehrtwende gibt.

Echte individuelle Förderung tut tatsächlich dringend Not. Wir, die Regierungsfraktionen, haben uns dieses Ziel auf die Fahnen geschrieben. Es steht an allererster Stelle, um die Leistungen unserer Schülerinnen und Schüler tatsächlich zu einem Optimum zu bringen und bei jedem vorhandene Stärken zu fördern und bestehende Defizite möglichst auszugleichen. Dazu gehört die Förderung Lernschwacher ebenso wie die Förderung Hochbegabter. Wer sich speziell mit diesen Themen auseinander gesetzt hat, der weiß, dass beides nichts anderes als die Individualisierung von Lernprozessen bedeutet.

Dies muss künftig der Anspruch aller Lehrerinnen und Lehrer sein, und wir müssen ihnen den Weg dorthin ebnen. Das heißt auch und vor allem, dass wir künftig Lehrerfortbildungen ermöglichen, die tatsächlich auf diese Bedürfnisse ausgerichtet sind. Ganz andere Schwerpunkte müssen in das Zentrum solcher Lehrerfortbildungen gerückt werden: Diagnosekompetenz, Psychologie, Schülermotivation und Lernbegleitung, um nur einige Merkmale zu nennen.

Uns ist die individuelle Förderung so wichtig, dass wir sie explizit ins neue Schulgesetz aufnehmen werden. Wir machen sie zur Pflicht und simulieren sie nicht nur in Hochglanzbroschüren. Wenn man die letzte Publikation der alten Landesregierung hierzu in die Hände und diese dann auch noch ernst nimmt, bräuchte eigentlich gar nichts mehr getan zu werden. Deswegen wundert mich die Debatte. Also, so ernst haben Sie sich selbst früher nicht genommen. So haben Sie in den von Ihnen verantworteten Broschüren doch an mancher Stelle wirklich das Blaue vom Himmel gelogen. Das muss man heute feststellen. Sie haben es damals nicht eingeräumt, aber reklamieren heute das, was Sie vor Jahren immer wieder behauptet haben, dass es nämlich bereits in unseren Schulen passiere.

(Beifall von FDP und CDU]

Wir sind mit Ihnen einig in dem Ziel, das Sitzenbleiben zwar deutlich zu reduzieren, aber dazu gehören auch Fördermaßnahmen, die nicht erst bei tatsächlichem Drohen des Sitzenbleibens einsetzen, wie Sie dies in Ihrer damaligen Verantwortung vorgeschlagen haben, sondern diese Fördermaßnahmen müssen immer dann zum Tragen kommen, sobald sich ernste Defizite bei den Schülern zeigen. Nur dann können sie auch Wirkung erzielen, bevor der Versetzungstermin in die Nähe rückt.

Ganz wird man das Sitzenbleiben jedoch nicht verhindern können. Es gibt immer Fälle, wo dies nötig ist, und in gleicher Weise Fälle, wo dies von den betroffenen Schülern sogar als wohltuend und als Erleichterung empfunden wird. Manche brauchen eine Ehrenrunde, einfach mal zum Durchschnaufen, um sich zu fangen und das Gefühl zu haben, nicht immer unter Strom zu stehen.

Viele Kinder trifft Sitzenbleiben tatsächlich in ihrem Selbstverständnis und in ihrem Selbstbewusstsein, aber manche finden gar nichts dabei und profitieren davon in einem anschließenden Entwicklungssprung. Es gibt genügend prominente Beispiele dafür. Ich muss sie nicht noch einmal aufzählen; Herr Solf hat es getan.

Wenn wir ein Höchstmaß an Motivation und damit die größtmögliche Sicherheit des Vermeidens des Sitzenbleibens bei unseren Schülern erreichen wollen, müssen unsere Lehrkräfte lernen und darauf achten, unsere Kinder und Jugendlichen immer möglichst nahe am sogenannten Flow zu halten.

Wenn sich Frau Beer da schon tief wissenschaftlich betätigt hat, dann müsste man das auch an dieser Stelle mal deutlich erwähnen. Also, diese ideale Lernsituation des optimalen Fordern immer nahe an der Grenze zur Überforderung sorgt viel stärker als besondere Organisationsrahmengebilde dafür, dass Kinder wirklich ihr persönliches Maximum aus sich selbst herausholen und somit zu dem individuell möglichen Leistungsoptimum geführt werden können.

Definitiv nicht zu einer Verantwortungsübernahme für die uns anvertrauten Schüler gehört es allerdings, sie auf Gedeih und Verderb durch eine Schulform zu schleppen, wenn erkennbar wird, dass sie – aus welchen Gründen auch immer – in die für sie falsche Schullaufbahn geraten sind. Auch dieses Risiko werden wir künftig durch Verbesserung der Diagnosekompetenz der Lehrkräfte und verbindlichere Grundschulgutachten minimieren.

Ich glaube, in unseren Erkenntnissen sind wir weiter, als Sie in Ihrem Antrag meinen. Wir werden unsere Vorstellungen und unsere Verantwortung in der anstehenden Novellierung des Schulgesetzes dokumentieren. Wir haben den ernsten Anspruch, Sitzenbleiben auch durch Fördermaßnahmen zu minimieren, aber nicht, um es völlig zu vermeiden, tatsächlich auszuschließen und dann solch skurrilen Vorschlägen zu folgen, wie wir sie in der letzten Legislatur hatten, einmal zur Probe zu versetzen und eine ganze Klasse durcheinander zu schütteln. – Danke schön.

(Beifall von FDP und CDU)

Die nächste Rednerin ist die zuständige Ministerin, Frau Sommer. Bitte schön.

Guten Abend. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen macht auf ein wichtiges und immer wieder diskutiertes Thema aufmerksam. Das begrüße ich. Nach meiner Meinung müsste der Antrag jedoch heißen: Individuelle Förderung verbessern, damit Sitzenbleiben überflüssig wird.

(Beifall von CDU und FDP – Sylvia Löhr- mann [GRÜNE]: Wenn das die einzige Ände- rung ist, können wir damit leben!)

Wir stehen vor einer sehr großen Herausforderung. Fast 60.000 Sitzenbleiber im Schuljahr 2003/2004, Frau Löhrmann! Wenn ich das eben Gesagte aufgreife, nämlich Sitzenbleiben sei eine Folge des Schulsystems, dürfen Sie sich das auch noch anheften.

(Beifall von Ingrid Pieper-von Heiden [FDP])

2003/2004 – lassen Sie es sich auf der Zunge zergehen – 60.000 Sitzenbleiber im Schuljahr! Das sind nach Ihrer und nach unserer Auffassung zu viele. Ich bin der festen Überzeugung, dass zahlreiche betroffene Schülerinnen und Schüler das Ziel der Klasse erreicht hätten, wenn sie eine individuelle Förderung erhalten hätten. Ich bin aber auch sicher, dass für einige Schülerinnen und Schüler die sogenannte Ehrenrunde notwendig war, weil die Defizite einfach zu groß waren.

Wir wollen ein gerechtes Schulsystem, in dem jedes Kind und jeder Jugendliche unabhängig von seiner Herkunft seine Chancen und Talente nutzen und entfalten kann. Um dies zu erreichen soll sich Schule – und hier vor allem der Unterricht – stärker an der individuellen Förderung der Schülerinnen und Schüler orientieren. Wir wollen, dass Schulen verstärkt die Möglichkeit erhalten, spezielle Angebote zur Förderung von lernschwachen und hochbegabten Kindern und Jugendlichen zu schaffen.

Hierzu können Schulen beispielsweise spezielle Förderverbünde gründen. Das heißt, dass sich mehrere Schulen zusammenschließen, um spezielle und differenzierte Angebote zu machen. Das gilt auch und besonders für hochbegabte Schülerinnen und Schüler. Denn auch hochbe

gabte Schülerinnen und Schüler müssen im Einzelfall einmal eine Klasse wiederholen.

Wir wissen nicht erst seit Pisa, wie wichtig Leseförderung ist. Wir wollen auch weiterhin Kompetenzen nutzen – auch das zeigt uns die PisaStudie –, die im Augenblick noch nicht ausgeschöpft sind.

Herr Solf, Sie haben mir aus dem Herzen gesprochen, wenn Sie sagen: Wir wollen nicht unbedingt nur die Latte höher hängen, wir wollen die Latte so hoch hängen, dass die Kinder darüber hinweg springen können. Ein sehr schönes Bild, für das ich Ihnen danke.

Für die Landesregierung ist es kein Luxus, unterschiedliche Talente nachdrücklich zu fördern. Es ist für uns eine Notwendigkeit, die es schon in Vor-Pisa-Zeiten gab, aber danach erst recht. Auch die Kultusminister der anderen Länder setzen hier einen Schwerpunkt. Ich freue mich, dass wir im Ministerium die federführende Arbeitseinheit zu dem Bereich „Individuelle Förderung, Förderung besonders begabter Schülerinnen und Schüler, Hochbegabtenförderung“ haben. In dieser Arbeitseinheit wird die Begabungsförderung in enger Zusammenarbeit von Schulen, Hochschulen, Seminaren und Schulaufsicht konzeptionell neu ausgerichtet. Schwerpunkt der Arbeitseinheit ist die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte im Hinblick auf eine Verbesserung der Diagnosefähigkeit, des Umgangs mit Heterogenität und der individuellen Förderung. Es gibt einen großen Nachholbedarf.

Nordrhein-Westfalen ist nach der Pisa-Studie 2003 weiter zurückgefallen. Das haben wir heute Morgen diskutiert. Dennoch möchte ich schlaglichtartig auf einige Punkte aufmerksam machen, die mir wichtig sind, die mich unglücklich stimmen und die wir angehen müssen:

Circa 35 % der Hauptschüler und 21 % der Realschüler kommen von einer anderen Schulform. Vergleichen wir die Anteile der Schüler, die mindestens eine Schullaufbahnverzögerung durch Zurückstellung bei der Einschulung beziehungsweise durch Klassenwiederholung hinter sich haben, gehört Nordrhein-Westfalen neben den Stadtstaaten wiederum zu den Ländern mit den höchsten Quoten. Gut jeder dritte 15-jährige Schüler hat in Nordrhein-Westfalen mindestens eine Verzögerung seiner Schullaufbahn erfahren.

Noch schlechter ist das Bild für unsere Schülerinnen und Schüler von der Hauptschule. 60 % aller Hauptschüler haben eine verzögerte Schullaufbahn. Jeder vierte Hauptschüler weist zwei oder sogar drei Schullaufbahnenverzögerungen auf.

Diese Werte sind im internationalen Vergleich, aber auch im Vergleich mit den Werten der neuen Bundesländer sehr hoch und zeigen ein unverändert trübes Bild. Wir müssen uns bemühen – Sie haben es eben erwähnt –, im Umgang mit Lebensarbeitszeit nicht mehr so großzügig umzugehen. Da gebe ich Ihnen Recht, Frau Beer.

Wir werden die Bedeutung der individuellen Förderung, die Förderung von schwachen Schülerinnen und Schülern bei der Novellierung des Schulgesetzes berücksichtigen. Gerade im Hinblick auf Hauptschulen ist unser Ansatz der Bereitstellung vollwertiger Ganztagsplätze genau richtig. Fördern braucht Zeit – bei Bedarf den ganzen Tag.

Wir bauen auf den Sachverstand unserer Lehrkräfte, auf ihren Elan, ihr Engagement für Kinder und Jugendliche und ihre pädagogische Leidenschaft. Wir wollen, dass Lehrer wieder mehr Zeit für Unterricht und Förderung erhalten. Darum wollen wir sie von Verwaltungsaufgaben weitestgehend entlasten.

Ein weiterer Beitrag zur Verminderung des Sitzenbleibens wird auch ein verbindlicheres Übergangsverfahren von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen sein. Auch hier werden wir im neuen Schulgesetz die entsprechenden Regelungen schaffen.

In öffentlichen Veranstaltungen habe ich auch vor dem Hintergrund der internationalen Vergleichsstudien darauf aufmerksam gemacht, dass ich mir wünsche, dass der Begriff Heterogenität wieder positiver aufgefasst wird. Für mich stellt die Verschiedenheit der Schülerinnen und Schüler eine Chance und keinen Nachteil dar.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich halte es nicht für sinnvoll, das Verfahren der Klassenwiederholungen generell abzuschaffen. Das alleinige Abschaffen des Sitzenbleibens, ohne die Möglichkeit zur individuellen Förderung zu verbessern, macht keinen Sinn und wird den Notwendigkeiten nicht gerecht.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Hat sie das für uns aufgeschrieben?)

Im Rahmen einer Individualisierung von Bildungsverläufen muss als Ultima Ratio die Möglichkeit bestehen, auch durch Klassenwiederholungen beziehungsweise in wenigen begründeten Fällen durch einen Schulformwechsel Schullaufbahnen zu korrigieren. Doch müssen wir durch Intensivierung der individuellen Fördermaßnahmen die Zahlen dringend verringern.

(Beifall von der FDP)

Individuelle Förderung meint dabei, Unterschiede zu akzeptieren, zu erkennen, dass es viele Formen unverschuldeter Benachteiligung gibt, und zu versuchen, diese abzubauen. Individuelle Förderung meint auch, Chancengerechtigkeit nicht mit Gleichbehandlung zu verwechseln. Jedes Kind ist anders.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Genau!)

Darum müssen wir die stärkenorientierte Förderung mehr in den Blick nehmen, auch und gerade für Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen in der Hauptschule. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von CDU und FDP)

Vielen Dank. – Frau Abgeordnete Beer möchte die Debatte noch mit einem kurzen Beitrag abbinden. Sie hat das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, wir können den Antragstitel gerne umstellen und das Ganze dann gemeinsam beschließen. Wenn es daran liegen soll, will ich das gerne zugestehen; das ist keine Frage. Ich glaube, dass ein grünes Sweatshirt und eine Jacke auch einiges bewirken.

(Heiterkeit von Ministerin Barbara Sommer)

Beim Thema „Heterogenität als Chance“ sind die Grünen hier im Haus früher ausgebuht worden. Sie haben das jetzt noch einmal positiv bestärkt. Das ist doch ein erheblicher Fortschritt. An der Stelle kann ich dem Ganzen nur mit Freude zustimmen.