Protocol of the Session on March 18, 2009

In Ihrem Eifer, die Gesamtschulen zu attackieren, verstrickt sich die Regierung gelegentlich in heuchlerische Widersprüche.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Allerdings!)

So wird in vorgeschobener Sorge um die Leistungsfähigkeit der Gesamtschulen mindestens ein Drittel an gymnasial geeigneten Schülern und Schülerinnen gefordert. Zugleich, meine Damen und Herren, beklagt die Ministerin in einer Pressemitteilung vom 27. Februar 2009, dass die Gesamtschulen zu viele Gymnasiasten aufnähmen. Ich zitiere:

Aktuelle Medienberichte zeigen, dass dieser Grundsatz

gemeint ist die Heterogenität –

an einigen Gesamtschulen verletzt wird. … Es ist nicht zulässig, wenn sich einzelne Gesamtschulen ihre Schülerschaft handverlesen aussuchen und Kinder mit Hauptschulempfehlung so gut wie keine Chance haben, aufgenommen zu werden.

So Frau Sommer.

(Ute Schäfer [SPD]: Hört, hört!)

Meine Damen und Herren, die CDU-Landtagsfraktion setzt noch einen drauf mit der sehr aberwitzigen Behauptung, dass die Gesamtschule Schüler und Schülerinnen mit Hauptschulempfehlung diskriminiere. In der gleichen Presseerklärung erklärt die Ministerin dann relativ zynisch:

Es gibt aber keine Vorzugsbehandlung für irgendeine Schulform – auch nicht für die Gesamtschule.

Gemeint ist der Ganztag.

Meine Damen und Herren, die Verweigerung des Ganztags ist eine perfide pädagogische Schikane für die Gesamtschulen.

(Beifall von SPD und GRÜNEN – Ralf Witzel [FDP]: 99 % sind doch im Ganztag! Das ist doch dummes Zeug!)

Sie konterkarieren Ihre eigenen Aussagen, Herr Witzel. Sie haben gerade eben das Hohelied der informellen Bildung beschworen und darauf hingewiesen, wie wichtig genau diese Bildung für Kinder aus sozial benachteiligten Familien ist.

(Ralf Witzel [FDP]: Richtig! Deshalb brauchen wir das beste Bildungssystem und nicht die meisten Gesamtschulen!)

Ihnen geben Sie in den neu gegründeten Gesamtschulen nicht die Möglichkeit, diese Bildung zu be

kommen, weil Sie den Ganztag von vornherein ausschließen. Sie reden anders, als Sie handeln. Das zeichnet Ihre Politik grundsätzlich aus.

(Beifall von SPD und GRÜNEN – Ralf Witzel [FDP]: Blödsinn!)

Hören Sie also endlich auf, Gesamtschulen und damit die vielen engagierten Lehrer und Lehrerinnen zu diffamieren. Akzeptieren Sie endlich den Willen der Eltern in diesem Land.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

In Bonn fehlten zur Gründung einer vierten Gesamtschule angeblich acht gymnasiale Kinder. 38 statt 30 hätten es aus Sicht der Bezirksregierung sein müssen. Der Schulleiter war mit der leistungsmäßigen Zusammensetzung sehr zufrieden und meldete, dass die Gesamtschule die Leistungsheterogenität aufweise und somit gegründet werden könne. Das sahen die Bezirksregierung und die Landesregierung anders. – Keine vierte Gesamtschule für Bonn, denn die Leistungsheterogenität sei nicht gegeben.

Nur, diese Meinung hatte vor Gericht keinen Bestand. Für die Bedingung, dass ein Drittel der Kinder eine Gymnasialempfehlung vorweisen müsse, gab es bisher keine Rechtsgrundlage.

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln ist eine erneute Blamage für die Landesregierung. Das Urteil relativiert zudem die Grundschulgutachten als allein maßgeblich für die Beurteilung der Aufnahme von Kindern und räumt den Schulleitern und Schulleiterinnen Ermessensspielräume bei der konkreten Aufnahme ein, was sich, meine Damen und Herren, mit unserer Auffassung von Schulleitern und Schulleiterinnen deckt, offensichtlich aber nicht mit Ihrer.

In zahlreichen Kommunen in NRW gibt es derzeit Initiativen für die Gründung neuer Gesamtschulen. 25 % aller Viertklässler hätten gern einen Platz, tatsächlich existieren 16 %. Nach dem Eilverfahren in Bonn haben Sie angekündigt, dass Sie Ihre gesamtschulfeindliche Politik fortsetzen wollen. So soll es landeseinheitliche Vorgaben geben, die nun die Beurteilung der Leistungsheterogenität bei der Neugründung von Gesamtschulen festschreiben soll.

(Ralf Witzel [FDP]: Richtig!)

Sie basieren dann auf den Grundschulgutachten, die – wie wir wissen – in keiner Weise vergleichbar sind.

Außerdem werden ein Anteil von Kindern mit Gymnasialempfehlung in Höhe von 30 %, ein Anteil von Kindern mit Realschulempfehlung in Höhe von 30 % und ein Anteil von Kindern mit Hauptschulempfehlung von 40 % festgeschrieben. An Peinlichkeit nicht zu übertreffen ist allerdings der Versuch, diese Regelung mit einem Kabinettsbeschluss aus dem Jahr 1969 zu belegen. Meine Damen und Herren von den Regierungsbänken, für wie dumm halten Sie

eigentlich die Menschen in diesem Land? Wo ist eigentlich Ihr Erkenntnisgewinn? Wo sind die Erkenntnisse der Bildungspolitik aus den letzten Jahren bei Ihnen geblieben?

(Beifall von der SPD)

Anders als Sie es in Ihren Reden ausführen, vergeuden Sie jährlich Bildungspotentiale von Kindern in Nordrhein-Westfalen, insbesondere von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte und von Kindern aus sozial benachteiligten Familien.

Herr Witzel, zumindest die Landtagsfraktion der FDP duckt sich häufig weg. Ihre Leute vor Ort haben häufig eine andere Meinung als die Landtagsfraktion. Anders, als Sie es immer wieder darzustellen versuchen, wissen die Menschen vor Ort,

(Ralf Witzel [FDP]: Ich werde Ihnen das gleich in meinem Beitrag darstellen!)

wir müssen anders auf die Probleme der sozialen Benachteiligung reagieren als Sie es mit Ihren Schulkonzepten in Nordrhein-Westfalen tun. Das wissen auch die Eltern.

Die Eltern empfinden bei dem Schulsystem einen unheimlichen Druck. Kinder haben Schulangst. Sie sind demotiviert und werden abgeschoben. Viele Eltern wollen in Nordrhein-Westfalen deshalb eine Veränderung der Lernbiografie ihrer Kinder. Sie wollen ein längeres gemeinsames Lernen.

Es verwundert nicht, dass Ihre Kompetenz im Bildungsbereich in diesem Land in der Zwischenzeit immer weiter sinkt, die Menschen dies mitbekommen und es in den Umfragen dokumentiert wird. Sie sind schlicht und ergreifend nicht in der Lage, vernünftige Politik zu machen.

(Beifall von der SPD)

Sie haben vier Jahre lang unter Beweis gestellt, dass Sie keine zukunftsfähige Schule zustande bringen. Jedes Jahr verursachen Sie Schulkämpfe in Nordrhein-Westfalen und verwehren den Eltern die Schulform, auf die sie ihre Kinder gerne schicken möchten.

Meine Damen und Herren, wissen Sie eigentlich, was der Kampf um einen Gesamtschulplatz für die einzelnen Eltern bedeutet? Wissen Sie was es bedeutet, wenn Sie nicht wissen, wo Sie Ihre Kinder zum Schuljahresanfang anmelden können? Wissen Sie was es bedeutet, wenn die Kinder zwischenzeitlich an einer anderen Schule angemeldet werden mussten, auch wenn eine Schule von einer Kommune nach einem Gerichtsurteil ermöglicht und auf den Weg gebracht wird? Nein, die meisten von Ihnen wissen das nicht. Diejenigen, die in Ihren Reihen sitzen, haben Ihre Kinder ohne Probleme auf die Gesamtschule gebracht.

(Beifall von der SPD)

Die nordrhein-westfälischen Kommunen haben im vergangenen Monat deutlich gemacht, dass sie Verantwortung für die Bildungspolitik übernehmen würden. Dabei sind es auch CDU-Politiker vor Ort, die gemeinsam mit anderen Politikern die Gesamtschule wünschen. Werden Sie endlich vernünftig.

Entsprechen Sie dem Elternwillen nach mehr Gesamtschulplätzen. Unterstützen Sie die Gründung von neuen Gesamtschulen. Führen Sie die gestrichene Schulleitungsentlastung für die Gesamtschulen wieder ein. Lassen Sie bei Neugründungen wieder Ganztagsformen zu, wie es Ihre eigenen Leute vor Ort fordern,

(Beifall von der SPD)

etwa der Oberbürgermeisterkandidat der CDU in Bonn. – Ich bedanke mich.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Hendricks. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Kollegin Beer das Wort. Bitte schön, Frau Abgeordnete Beer.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Erklärungsnot wird offenbar immer größer. Die schwarz-gelbe Koalition muss erleben, dass der Run auf die Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen trotz einer gezielten Antigesamtschulpolitik ungebrochen ist. Mehr noch. Die Gesamtschule gewinnt für immer mehr Eltern an Attraktivität.

Auch in diesem Jahr finden fast 15.000 Kinder keinen Platz an einer Gesamtschule. Damit fehlen nach dem letzten Anmeldeverfahren gut 130 vierzügige Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.

Eltern lassen sich von der ideologischen Blockadehaltung dieser Landesregierung nicht ins Bockshorn jagen. Sie lassen sich nicht abschrecken. Das beweist zum Beispiel der Bundestagskandidat der FDP in Paderborn, der seine drei Kinder glücklicherweise an unserer Gesamtschule unterbringen konnte. Herzlichen Glückwunsch, Herr Klare. Sie lassen sich nicht von der Landesebene aussteuern.

(Beifall von den GRÜNEN)

Konsequent trotzen Eltern dem Schulministerium durch ihre Anmeldungen Neugründungen von Gesamtschulen ab in Hemer. Es gibt immer mehr Kommunen, in denen Beschlüsse für die Neugründung von Gesamtschulen diskutiert, beschlossen und umgesetzt werden. Der Ruf nach Gesamtschulen sowie der Druck von Eltern, engagierten Lehrerinnen und Kommunen nehmen zu, weil die Menschen gemerkt haben und täglich spüren, dass die

schulpolitischen Uhren in diesem Land rückwärts gedreht werden. Sie erkennen, es soll ein ständisches Schulsystem zementiert werden. Kinder werden der Vorstellung ausgeliefert, es sei quasi schöpfungsmäßig so angelegt, dass sich die Menschheit in drei Kategorien einteilen lasse. Sie lauten: Kategorie 1 – praktisch begabt –, Kategorie 3 – theoretisch begabt – und dazwischen liegt die Kategorie 2 – von Kategorie 1 oder 3 jeweils etwas zu viel oder zu wenig, das ist noch nicht ganz heraus –.