Protocol of the Session on November 10, 2020

Federführend soll der Ausschuss für Inneres und Sport sein, mitberatend der Ausschuss für Rechts- und Verfassungsfragen. Wer dem so folgen möchte, den bitte ich um sein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist das einstimmig so beschlossen.

Wir kommen zum

Tagesordnungspunkt 22: Abschließende Beratung: Entwurf eines Gesetzes zu den Verträgen zur Änderung der Verträge zwischen dem Land Niedersachsen und dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen sowie dem Landesverband Israelitischer Kultusgemeinden von Niedersachsen - Gesetzentwurf der Landesregierung - Drs. 18/7506 - Beschlussempfehlung des Kultusausschusses - Drs. 18/7838 - Schriftlicher Bericht - Drs. 18/7862 - Änderungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion der CDU - Drs. 18/7886

Der Ausschuss empfiehlt Ihnen, den Gesetzentwurf mit Änderungen anzunehmen.

In der Drucksache 18/7886 liegt ein gemeinsamer Änderungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion der CDU vor, der darauf zielt, die in Artikel 2/1 vorgesehenen Regelungen zur Änderung des Kammergesetzes für die Heilberufe in der Pflege aus diesem Gesetzentwurf herauszulösen.

Meine Damen und Herren, ich eröffne die Beratung. Für die CDU-Fraktion hat sich der Kollege Christian Calderone zu Wort gemeldet. Bitte schön, Herr Kollege!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Asche glüht noch in der Synagoge, aus den Fenstern steigt auch heute noch Rauch -

heute am Tag nach der Reichspogromnacht mit durch das nationalsozialistische Regime gelenkten Verfolgungen und Übergriffen auf Juden und jüdische Einrichtungen in Deutschland und Österreich. Was muss in einer Gesellschaft am Tag nach diesen Pogromen vorgehen, in denen das Gotteshaus des Nachbarn geschändet und niedergebrannt wurde? Wie kann ein normaler Alltag an diesem Tag nach dieser Nacht möglich sein? - Das war heute vor 82 Jahren.

Und heute am Tag 82 Jahre nach der Pogromnacht ist die Asche nicht ausgetreten. Vielleicht hatten wir irgendwann tatsächlich die Hoffnung, diese Asche wäre erkaltet. Spätestens die letzten Jahre müssen uns eines anderen belehren. Antisemitismus in all seinen Formen entgegentreten, so hat es die Präsidentin des Niedersächsischen Landtages heute Morgen zu Beginn der Plenarsitzung in der Gedenkminute zur Reichspogromnacht formuliert.

(Lebhafter Beifall bei der CDU, bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Und genau das bleibt unsere Aufgabe als deutsche Gesellschaft. Sie hat nichts an Aktualität und Dringlichkeit verloren. Die Erhöhung der Landeszuweisungen an die Verbände der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen und der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen ist deswegen richtig. Sie ist sogar überfällig, weil die letzte dauerhafte Erhöhung auf das Jahr 2013 und noch aus der Zeit der Vorvorgängerregierung datiert. Und sie ist überfällig, weil die Landesförderung sehr deutlich unterhalb der durchschnittlichen Förderung aller Bundesländer liegt. Ich halte es auch für angemessen, dass es eine jährliche Steigerung dieses Förderbetrages gibt, damit künftig die Situation vermieden werden kann, dass diese Beträge über mehr als fünf Jahre, über eine ganze Legislaturperiode hinweg, nicht angepasst werden.

Meine Damen und Herren, Antisemitismus in allen seinen Formen entgegenzutreten, heißt aber auch, ihn umfassend zu benennen. Nicht erst der Anschlag auf die Synagoge von Halle hat uns noch einmal deutlich vor Augen geführt, was wir wissen, nicht relativieren dürfen, wachsam beobachten und robust bekämpfen müssen. Antisemitismus, gewalttätiger Antisemitismus, gehört zur DNA des Rechtsradikalismus, und Rechtsradikalismus muss auf den stärksten Widerstand unseres Rechtsstaates treffen.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Am Tag nach der Pogromnacht vor 82 Jahren und auch heute gibt es Antisemitismus jenseits des Radikalen und des Rechtsradikalen. Wären es doch nur die rechten oder linken Radikalen in unserer Gesellschaft! Es sind aber auch christlichabendländisch geprägte Menschen. Antijudaistische Mythen spielen auch heute eine Rolle, etwa bei antiisraelischen Protesten auf deutschen Straßen. Diese diffuse Grundierung der Judenfeindlichkeit ist eben nicht plötzlich plausibel, sondern sie kann bis heute auf lang vorhandene religiös aufgeladene Bilder von Juden aufbauen.

Es sind auch Sozialisten. Erst jetzt scheint sich die britische Arbeiterpartei endlich von ihrem bis in dieses Jahr amtierenden Vorsitzenden Jeremy Corbyn aufgrund schwerwiegenden Versagens beim Vorgehen gegen Antisemitismus zu trennen.

Und es sind auch muslimisch geprägte Menschen, die Antisemitismus als Teil ihres kulturellen Gepäcks und als Teil des politischen Islam nach Europa und nach Deutschland transferieren. Ein Blick nach Frankreich zeigt, dass Juden das Land aufgrund muslimischen Antisemitismus verlassen.

Es sind eben nicht die Christen, die Sozialisten und die Muslime, aber es sind einzelne Menschen unterschiedlicher Sozialisation und oft ohne erkennbare Radikalität, die die Basis für antisemitisches Denken in unserer Gesellschaft verbreitern. Deswegen halte ich die ausschließliche Verknüpfung von Antisemitismus und Rechtsradikalismus für verharmlosend.

Wir dürfen die gesellschaftliche Herausforderung des entschlossenen Kampfes gegen Judenfeindlichkeit nicht verengen, sondern müssen auch gerade in einer heterogenen Gesellschaft alle Strömungen betrachten.

Dazu gehört im Übrigen auch - als kleiner Aspekt -, dass in der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht alle antisemitischen Straftaten, deren Motivation unbekannt ist, automatisch dem Phänomenbereich PMK rechts zugeordnet werden. Meine Damen und Herren, wir brauchen diesen Automatismus nicht, um die Gefahr des Rechtsradikalen zu dokumentieren. Diese Gefahr ist bekannt. Aber dieser Automatismus ist geeignet, die gesellschaftliche Dimension von Antisemitismus zu verschleiern.

(Beifall bei der CDU)

Der Tag nach der Pogromnacht vor 82 Jahren war ein schlechter Tag, auch weil er Alltag war und damit dokumentierte, dass der Antisemitismus der Pogromnacht nicht nur der Antisemitismus der Rechtsradikalen war, sondern auf einen gesellschaftlichen Resonanzraum traf. Der Tag nach der Pogromnacht nach 82 Jahren, heute, sollte denselben Fehler nicht wiederholen.

Herzlichen Dank.

(Starker Beifall bei der CDU, bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Herzlichen Dank, Herr Kollege Calderone. - Meine Damen und Herren, für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich die Kollegin Eva Viehoff zu Wort gemeldet. Bitte schön, Frau Kollegin!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst sind wir als Grüne sehr erfreut, dass es uns gelungen ist, diese Trennung der beiden gesetzlichen Regelungen bei diesem Tagesordnungspunkt zu erreichen. Ich glaube, dass es dem Staatsvertrag mit den jüdischen Gemeinden gerecht wird, dass dies ein einzelner Tagesordnungspunkt ist. Es ist gut, dass wir heute diesen Staatsvertrag verabschieden.

Der finanzielle Aufwuchs ist gut, richtig und wichtig - wichtig für ein lebendiges jüdisches Leben in Niedersachsen, wichtig für eine aktive Unterstützung des jüdischen Lebens bei uns. Wie eben schon erwähnt wurde, haben wir immer mehr und immer häufiger mit Antisemitismus zu tun. Mehr Sichtbarkeit jüdischen Lebens macht auch für die Menschen in Niedersachsen sichtbar, dass jüdisches Leben zu Niedersachsen gehört und immer gehören sollte.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung von Dr. Gabriele Andretta [SPD])

Ganz besonders an einem Tag wie diesem, einem Tag, nachdem wir der Reichspogromnacht gedacht haben und wir heute Morgen eine Gedenkstunde abgehalten haben, müssen wir sagen: Antisemitismus darf es nie wieder in dieser Ausprägung geben, nicht bei uns und nirgendwo auf dieser Welt!

Heute Nachmittag geht es nun tatsächlich um den Staatsvertrag und um die bessere finanzielle Aus

stattung. Das leistet der neue Staatsvertrag, und das ist gut so.

Halle und Hamburg - sie alle - zeigen uns aber: Wir dürfen uns nicht täuschen. Wir brauchen auch mehr Sicherheit für unsere jüdischen Gemeinden in Niedersachsen. Daher war ich etwas erstaunt, als wir auf Nachfrage feststellen mussten, dass die im Haushalt 2020 interfraktionell zur Verfügung gestellten Mittel für die Sicherheit in Höhe von 1,6 Millionen Euro bis heute nur sehr spärlich geflossen sind. Diese Mittel werden dringend gebraucht. Sie haben keinen Übertragungsvermerk. Das heißt: Wir alle, die wir interfraktionell gefordert haben, mehr in die Sicherheit der niedersächsischen jüdischen Gemeinden zu investieren, müssen dafür sorgen, dass diese Mittel auch 2021 zur Verfügung stehen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Bei den im Staatsvertrag vorgesehenen finanziellen Erhöhungen stellt sich die Frage: Sind das vielleicht die Mittel, die wir interfraktionell zur Verfügung gestellt haben?

Die Mittel für den Staatsvertrag dienen dazu, das jüdische Leben in Niedersachsen aktiv zu unterstützen und sichtbarer zu machen; denn auch Sichtbarkeit fördert Sicherheit und nicht nur Mauern. Wir brauchen aber trotzdem zusätzliches Geld für Sicherungsmaßnahmen aus einem separaten Topf und nicht aus diesem Staatsvertrag.

Danke.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Viehoff. - Für die SPD-Fraktion hat sich nun der Kollege Christoph Bratmann zur Wort gemeldet. Bitte schön, Herr Kollege!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Christian Calderone und Eva Viehoff haben schon darauf hingewiesen: Gestern und auch heute noch vor 82 Jahren brannten in Hannover, in meiner Heimatstadt Braunschweig und in vielen anderen Orten im heutigen Niedersachsen wie auch auf deutschem Boden generell die Synagogen. Es brannten Wohnhäuser und Privatwohnungen. Es wurden Menschen misshandelt, verächtlich gemacht, verschleppt, ermordet. Diese sogenannte Reichspogromnacht markierte dabei den Übergang von

Entrechtung und Verfolgung bis hin zur planmäßigen Auslöschung jüdischen Lebens durch Massenvernichtung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gedenken daran bedeutet nicht nur, dass die Opfer niemals vergessen sind. Es bedeutet auch, dass wir alle gemeinsam Verantwortung dafür tragen, dass so etwas nie wieder und nicht im Ansatz passieren darf.

Der Ungeist des Antisemitismus - auch das ist schon vielfältig dargestellt worden - ist nicht tot, er existiert weiterhin und existiert gerade auch in solchen Krisenzeiten wie diesen, weil verschwörungstheoretische Ansätze nicht selten mit Antisemitismus verknüpft sind.

Es gibt vielfältige Formen des Antisemitismus: vom faschistischen, rechtsextremen Antisemitismus bis hin zum radikalen Islam. Alledem müssen wir entschieden entgegenwirken, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei den GRÜNEN und bei der FDP)

So war der Anschlag auf die Synagoge in Halle vor ziemlich genau einem Jahr, der uns allen noch sehr präsent ist, als eine schwere Holztür eine Katastrophe verhinderte, auch der Anlass, im Niedersächsischen Landtag die Mittel für die Arbeit der jüdischen Verbände und Gemeinden zu erhöhen und den Schutz jüdischen Lebens noch stärker, als wir es schon bisher getan haben, in den Fokus zu stellen.

So sind im Haushalt 2020 die vertraglichen Landesleistungen an die beiden jüdischen Landesverbände einmalig um insgesamt 2 Millionen Euro erhöht worden. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass beide Verbände seit über zwei Jahren um eine Erhöhung der vertraglichen Landesleistungen bitten, zumal diese in Niedersachsen deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegen. Deshalb ist die Forderung nach dauerhafter Angleichung der Landesleistung an den Bundesdurchschnitt aus unserer Sicht angemessen. Dieser Forderung müssen wir nun nachkommen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Julia Willie Hamburg [GRÜNE]: Sicherheitsmittel muss es trotzdem geben!)

Dem wird dadurch Rechnung getragen, dass durch die Änderungen der Verträge sowohl die einmalige

Erhöhung als auch geplante laufende Erhöhungen ab dem Jahr 2021 eingearbeitet sind. Diese Änderungen bedürfen gemäß Artikel 35 Abs. 2 der Niedersächsischen Verfassung der Zustimmung des Landtages. Ich hoffe, sie werden heute sehr breit getragen, weil wir uns in diesem Punkt, denke ich, alle einig sind und alle einig sein müssen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht nicht nur darum zurückzublicken. Es steht ein ganz besonderes Jubiläum bevor. Im Jahr 2021 feiern wir 1 700 Jahre jüdisches Leben auf deutschem Boden. Die erste jüdische Gemeinde in Deutschland ist nachweislich im 4. Jahrhundert in Köln gegründet worden. Das zeigt: Jüdisches Leben gehört zu unserer Identität in Deutschland und in Niedersachsen. Es zu schützen, es zu fördern, es zu unterstützen, muss Teil unserer Identität sein, und wir müssen es als vordringliche Aufgabe ansehen. Das ist gut für unser Land Niedersachsen, und das ist gut für unsere Gesellschaft, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und bei den GRÜNEN)

Somit hoffe ich, dass die vielen angekündigten deutschlandweiten Veranstaltungen für das Jubiläumsjahr 2021 unter dem Motto „1 700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ möglichst nicht den Corona-Beschränkungen zum Opfer fallen. Ich hoffe, dass es zumindest in der zweiten Jahreshälfte möglich sein wird, dieses Jubiläum angemessen zu feiern. Denn eines ist klar: Die jüdischen Gemeinden und Verbände vor allem in Niedersachsen leisten einen immens wichtigen Beitrag für unser Gemeinwesen. Diesen Beitrag müssen wir unterstützen.