Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erwarten Sie nicht, dass ich jetzt nur Dinge sage, die Sie nicht schon gehört haben. Da ich schon zwei prominente Vorredner hatte, wird sich manches in meinem Vortrag ein klein wenig wiederholen. Ich hoffe, dass Sie ihn trotzdem gern hören werden.
Am 26. Oktober 1978 wurde das restaurierte und umgebaute Landtagsgebäude in Oldenburg mit einer Feierstunde eingeweiht. An ihr nahmen u. a. der Präsident des Niedersächsischen Landtages, Heinz Müller, Präsidium, Ältestenrat, Fraktions- und Ausschussvorsitzende des Landesparlaments - insgesamt etwa 100 Personen - teil. Ich hatte damals die Ehre, einen Kurzvortrag zur Geschichte des Oldenburger Landtages halten zu dürfen. - Sie haben richtig gehört: Das ist jetzt 38 Jahre her.
Präsident Müller betonte damals in seiner Ansprache, dass es sich nicht nur um ein Baudenkmal handele, sondern dieses habe „auch als Denkmal für die Geschichte der parlamentarischen Demokratie im Land Niedersachsen große Bedeutung“.
Seitdem, seit 1978, haben vier Präsidenten des Niedersächsischen Landtages Geleitworte zu Publikationen über den Oldenburger Landtag geschrieben: Heinz Müller, Dr. Edzard Blanke, Horst Milde - ich freue mich, dass er hier ist - und Bernd Busemann, Letzterer zu dem großen Landtagshandbuch, an dem auch Herr Rudolf Wyrsch maßgeblich beteiligt war. Ohne ihn hätte ich das wahrscheinlich nicht fertiggebracht. Kann es einen besseren Beweis dafür geben, dass das ehemals selbstständige Land Oldenburg mit seiner ganz besonderen Geschichte unter Wahrung seiner
kulturellen Identität voll und ganz im Land Niedersachsen integriert ist? - Auch Landtagspräsident Busemann hat das schon betont.
Es mag ein Zufall sein, ist aber nicht ohne symbolische Bedeutung, dass die 70. Wiederkehr des Tages, an dem das neue Land Niedersachsen durch eine Verordnung der britischen Militärregierung gegründet wurde, mit der Oldenburger 100Jahr-Feier, zu der wir uns heute versammelt haben, praktisch zusammenfällt.
Wenn wir jetzt die 100. Wiederkehr jenes Tages begehen, an dem das neue Landtagsgebäude in Oldenburg feierlich eingeweiht wurde, so müssen wir gleichzeitig daran denken - auch das wurde schon erwähnt -, dass damals - 1916 - Krieg herrschte, dass sich unsere Vorfahren seit zwei Jahren im Ersten Weltkrieg befanden. Die Vernichtungsschlacht um Verdun war noch nicht beendet, die große britisch-französische Somme-Offensive in vollem Gange.
Seit 1945, dem Ende des Zweiten Weltkriegs, leben wir in Deutschland in Frieden, und doch werden wir tagtäglich mit Nachrichten von Kriegsschauplätzen wie Syrien, dem Irak, dem Jemen oder auch der Ukraine konfrontiert. Eine der schrecklichsten Formen des Krieges ist der Luftkrieg mit der Bombardierung der Zivilbevölkerung aus der Luft. - Ich erinnere nur an Aleppo. - Das gab es zwar im Ersten Weltkrieg vereinzelt auch schon, doch spielte es noch keine größere Rolle. Und so musste man am 9. November 1916 nicht befürchten, dass die Einweihungsfeier des neuen Parlamentssitzes durch einen Luftangriff gestört werden könnte.
Die Kriegsschauplätze waren damals noch weit entfernt, das Kriegsgeschehen jedoch allgegenwärtig. War es da vertretbar, ein solch großes und repräsentatives Gebäude für den Landtag und gleichzeitig bis 1917 ein weiteres für das Staatsministerium zu bauen? - Ähnliches gilt übrigens auch für das Empfangsgebäude des Oldenburger Hauptbahnhofs. Das nach dem Vorbild des Darmstädter Hauptbahnhofs errichtete Jugendstilgebäude mit der heute so umstrittenen Gleishalle wurde im Kriegsjahr 1915 eingeweiht. Ich darf noch erwähnen, dass den Baubericht für das Landtagsgebäude bei dessen Einweihung im Namen der Baukommission des Parlaments der Abgeordnete Karl Tappenbeck erstattete, im Hauptamt Oberbürgermeister der Haupt- und Residenzstadt Oldenburg und damit ein Amtsvorgänger von Ihnen, Herr Krogmann.
Ich habe Herrn Dr. Welp von der Oldenburgischen Landschaft gebeten, einige Bilder, die er freundlicherweise nach meinen Vorstellungen ausgewählt hat, zu zeigen.
Zur Erklärung sei gesagt, dass Landtagsgebäude und Staatsministerium schon vor Kriegsbeginn bewilligt und begonnen worden waren, dass sich aber wegen des Krieges die Fertigstellung des Parlamentssitzes um ein Jahr verzögert hatte. Seit 1848 - das hat Landtagspräsident Busemann schon ausführlich dargestellt - hatte der in der Revolutionszeit ins Leben gerufene Oldenburgische Landtag in überaus beengten Verhältnissen im ehemaligen Militärhaus am Pferdemarkt getagt. Dort ist heute u. a. das Standesamt der Stadt Oldenburg untergebracht.
Seit mehr als dreieinhalb Jahrzehnten hatte man im Landtag immer wieder über einen Neubau debattiert, ohne dass es zu einer Realisierung gekommen wäre. 1908 war dann ein Architektenwettbewerb für den Bau eines neuen Ministerial- und eines Landtagsgebäudes deutschlandweit ausgeschrieben worden.
Abb. 2: Wettbewerbsentwurf von Bonatz und Scholer für ein gemeinsames Landtags- und Ministerialgebäude von 1908
Bei ihm gewannen unter mehr als 170 Einsendungen die Stuttgarter Architekten Paul Bonatz und Friedrich Eugen Scholer - wir haben davon schon gehört - einen der nur vergebenen zwei zweiten
Preise. Man hat den ersten und den zweiten Preis zusammengelegt, weil man mit den Vorschlägen nicht so ganz einverstanden war.
Entgegen den Ausschreibungsbedingungen hatten sie das Ministerialgebäude mit dem Landtag „in einem schlossartigen, symmetrisch aufgebauten Komplex“ verbunden.
Erst vier Jahre später wurde Bonatz, der gerade mit Scholer die neue, heute noch erhaltene Stadthalle in Hannover baute - auch das wurde schon erwähnt -, um einen verbesserten Entwurf gebeten. Die beiden trennten nun die Gebäude und erhielten ohne neue Bauausschreibung im März 1913 den Bauauftrag.
Bonatz, der auf einer Studienreise nach Ägypten Anregungen von dort mitbrachte, nahm für das Landtagsgebäude vor allem die klassizistische Architektur um 1800 zum Vorbild.
So sieht das Gebäude heute bei schönem Wetter aus, wenn Sie vom Theodor-Tantzen-Platz her auf das Gebäude zu gehen.
Nach Nils Aschenbeck erscheint der Oldenburger Landtag „in seiner Grundform wie ein Herrenhaus aus der Zeit um 1800 … Er erinnert an die ruhigen Landhäuser Bremer Kaufmannsfamilien aus dem Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts …“. Der „Portikus“ - Sie sehen ihn hier - „mit den ionischen Säulen und der hohen, das Giebelfeld ersetzenden Attika beherrscht die Fassade, ja er wird zum Bild des Landtags.“ Man kann sich den Landtag ohne den Portikus nicht vorstellen. Sonst wäre das Gebäude nur ein besseres Landhaus. „Im Bewusstsein der Betrachter reduziert sich die Architektur auf eine große herrschaftliche Geste“.
Gerade in den Jahren 1912 bis 1914 „kann man eine Monumentalisierung der Architektur betrachten“, wobei „die ägyptische Monumentalität“ durchaus einen gewissen Einfluss ausübte. „Paul Bonatz“ - so Aschenbeck weiter - „hat in dieser ganz speziellen Phase der Architekturgeschichte einem kleinen Staat im Nordwesten seine passende, seine ureigene Monumentalität gegeben“. So weit Aschenbeck.
Rechtzeitig zum Jubiläum hat das Gebäude außen und innen einen neuen Farbanstrich bekommen. Das Gerüst ist gerade abgebaut worden. Nur nebenbei darf ich erwähnen, dass ursprünglich - 1916 - laut Zeitung das „Material aus Muschelkalk mit graugrün getönter Putzfläche“ bestand. - Heute sieht es jedenfalls ansprechender aus, wie ich sagen würde.
Dass der Großherzog als erste Instanz im Staate bei diesem neoklassizistischen Bau einen entscheidenden Einfluss ausgeübt hat, zeigen auch die Inschrift auf der Fassade - viele von Ihnen werden das beim Hineinkommen vielleicht gesehen haben -: „LANDTAG DES GROSSHERZOGTVMS“ - nichts weiter; der Namen Oldenburg kommt gar nicht vor - und darüber unter einer Krone die Initialen „FA“ - sie bedeuten: Großherzog Friedrich August -, begleitet von den Jahreszahlen „1914“ und „1916“, die die Bauzeit nennen.
Da ich vermuten darf, dass manchen von Ihnen der Name Paul Bonatz nicht so geläufig sein wird - Herr Busemann hat mir das aber schon im Grunde vorweggenommen -, möchte ich nur an den Hauptbahnhof in Stuttgart - Ihnen allen wahrscheinlich unter „Stuttgart 21“ bekannt - erinnern. Der Stuttgarter Architekt - das möchte ich hier nicht verschweigen - war auch an Staatsbauten im „Dritten Reich“ beteiligt. Später lebte er lange Zeit in der Türkei und war von 1946 bis 1953 Architekturprofessor in Istanbul.
Das Oldenburger Landtagsgebäude ist nicht etwa eines unter vielen - jetzt muss man etwas Lokalpatriotismus walten lassen -, sondern etwas ganz Besonderes. Es war nach dem von 1901 bis 1907 erbauten Dresdener Ständehaus das letzte seiner Art im deutschen Kaiserreich und überhaupt der letzte Zweckbau für ein Landesparlament vor Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949.
„Sie haben es“, so schrieb ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Berlin am 10. Mai 2016 - also in diesem Jahr -, „in
Oldenburg mit einem außerordentlich interessanten Sonderfall zu tun, zumal der Architekt Bonatz nicht unbedingt ein Freund des Parlamentarismus gewesen ist.“
Aus demselben Jahr 1916 - möglicherweise sogar vom Tag der Eröffnung des Gebäudes - stammt das älteste bekannte Fraktionsbild, ein Foto der elfköpfigen SPD-Gruppe.
Hatte in den Reden vom 9. November 1916 noch die Zuversicht überwogen, dass der Krieg bald siegreich beendet werden könnte, so bot sich schon zwei Jahre später ein ganz anderes Bild: Deutschland hatte den Krieg verloren, die Revolution war ausgebrochen, der Kaiser und die Fürsten mussten abdanken. Am 11. November 1918 verzichtete Großherzog Friedrich August von Oldenburg - dessen Initialen sind über dem Portikus zu sehen - auf den Thron. Ein Direktorium mit dem Wilhelmshavener Obermatrosen Bernhard Kuhnt als Präsidenten, vier Vertretern der SPD, je einem Vertreter von DDP und Zentrum und - auch das war etwas Besonderes - zwei ehemaligen großherzoglichen Ministern bildete die neue Regierung des nunmehrigen Freistaats Oldenburg.
Aber - und das war einmalig im Deutschen Reich - der alte Landtag konnte bis Februar 1919 weitertagen. Das wurde ausdrücklich im Direktorium beschlossen. Dort saßen also alle gewählten Abgeordneten aus der großherzoglichen Zeit und haben die Geschicke des Landes zusammen mit dem Direktorium gelenkt.
Noch im selben Monat - im Februar 1919 - ließ sich der Verwaltungsausschuss des Landtags - das Bild befindet sich in einem Zimmer nebenan - in seiner alten Besetzung von dem Heimatmaler Professor Bernhard Winter - hier in Oldenburg sehr bekannt - im Bild verewigen. Damals genehmigte
das Direktorium, das Bild ebenso wie Bilder der anderen beiden Ausschüsse, die kurz davor gemalt worden waren, für den Landtag anzukaufen. Vier Monate nach der Revolution hat man es hier in Oldenburg - für Einheimische vielleicht gar keine Überraschung - fertiggebracht, die Bilder anzukaufen. Das ist schon etwas Besonderes!
Das Plenum des alten Landtages, des großherzoglichen Landtages - auf den gedruckten Protokollen stand zum Teil noch das Wort „großherzoglich“ -, verabschiedete ein neues Wahlgesetz nach dem Vorbild der Wahlgesetze für das Reich und für Preußen. Es führte die direkte Mehrheitswahl in drei Wahlkreisen, und zwar Oldenburg, Lübeck und Birkenfeld, nach Parteilisten ein und gab endlich - das hat Herr Busemann schon ausführlich geschildert - auch den Frauen das Wahlrecht.
Abb. 6: Der Freistaat bzw. das Land Oldenburg mit seinen drei Landesteilen 1918 - 1937 (Karte: Dietrich Hagen)
Bis 1937 bestanden das Großherzogtum, der Freistaat und zuletzt das Land Oldenburg aus drei weit auseinander liegenden Landesteilen: in der Mitte - das blau gekennzeichnete Gebiet - der Landesteil Oldenburg - früher genannt Herzogtum Oldenburg, im Gegensatz zum Großherzogtum Oldenburg; das ist das heutige Oldenburger Land, wie es dann im Land Niedersachsen aufgegangen ist - von der einzig oldenburgischen Ostfriesischen Insel Wangerooge bis zu den Dammer Bergen, ganz kurz vor Osnabrück.