Protocol of the Session on February 19, 2010

(Björn Thümler [CDU]: Was war denn jetzt mit dem zweiten Teil der Frage? Sie haben die Frage nicht beantwor- tet!)

Meine Damen und Herren, ich fände es sinnvoll und auch überzeugend, wenn wir zur Versachlichung der Debatte über Armut insgesamt

(David McAllister [CDU]: Dazu tragen ja gerade Sie bei! Sie Messlatten- Auflegerin!)

eine fortlaufende und genaue Armuts- und Reichtumsberichterstattung in Niedersachsen hätten. Was Sie von der Linken in Ihrem Antrag fordern, ist für uns ja nicht neu. Wie Sie sicherlich verfolgt haben, haben wir mehrfach Anträge dazu gestellt und dieses Thema hier immer wieder diskutiert. Das ist auch richtig. Im Bund wird ja seit rot-grünen Regierungszeiten regelmäßig ein solcher Bericht erstellt.

Eines muss man natürlich bedenken, lieber Herr Humke-Focks: Die Reichtumsberichterstattung ist seit der Abschaffung der Vermögensteuer schwierig. Man kann sich nur mittelbar über die Einkommens- und Verbrauchsstatistik und die Einkommensteuerstatistik nähern. Richtig viel geben sie nicht her.

Nun hat sich die Landesregierung nach langen Diskussionen mit der Landesarmutskonferenz - ich möchte das fast schon als Zangengeburt bezeichnen - zu einer eigenen - wie das Ministerium sagt, handlungsorientierten - Sozialberichterstattung durchgerungen. Gesehen haben wir davon bisher nichts. Es ist auch überhaupt nichts verlautbart worden. Woran liegt das? Sehen die Erkenntnisse vielleicht anders aus als gewünscht? Wenn die Ministerin gleich spricht, könnte sie ja einmal einen Zwischenbericht geben.

Zum Stichwort Handlungsorientierung: Wir sind der Überzeugung, dass wir über die Armut und die Notwendigkeit ihrer Bekämpfung schon so viel

wissen, dass wir daraus politische Schlüsse ziehen können. Deswegen haben wir Ihnen eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, wie wir uns die Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung vorstellen. Diese Vorschläge finden Sie in unserem Antrag wieder.

Ich nenne beispielhaft die Einführung des sogenannten Progressivmodells, bei dem die Belastung der Einkommen mit Sozialversicherungsabgaben progressiv wächst. So werden untere Einkommen systematisch entlastet. Damit werden auch gering bezahlte Beschäftigungen wettbewerbsfähiger. Das ist ein sehr vernünftiges Modell. Ich würde mich sehr freuen, wenn darüber intensiver diskutiert würde.

(Zustimmung von Helge Limburg [GRÜNE])

Ich nenne die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts notwendig gewordene Neuberechnung der Kinderbedarfe. Ich nenne die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 7,50 Euro als absolute untere Auffanggrenze. Ich nenne den Nachholbedarf der Erwachsenenregelsätze, wie sie der Paritätische Wohlfahrtsverband errechnet hat, in Höhe von mindestens 420 Euro, den Ausbau der Bildungsinfrastruktur hin zu gebundenen Ganztagsschulen und den schnelleren Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen vor allen Dingen für die unter Dreijährigen. Die Debatte darüber haben wir ja schon heute Vormittag geführt.

(Zustimmung von Patrick-Marc Hum- ke-Focks [LINKE])

Niedersachsen liegt hier im Bundesvergleich noch immer auf dem vorletzten Platz und wechselt sich bei der roten Laterne regelmäßig mit NordrheinWestfalen ab.

(Patrick-Marc Humke-Focks [LINKE]: Noch!)

Es gibt sehr viel zu tun angesichts der vom DIW und anderen beschriebenen bedrohlichen Armutsentwicklung und vor allen Dingen angesichts der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich in diesem Land. Die reichsten 10 % der Bevölkerung verfügen über mehr als 60 % des Gesamtvermögens, während 27 % der Bevölkerung überhaupt kein Vermögen haben oder verschuldet sind. Diese Spreizung wird immer größer, und sie ist ungerecht, meine Damen und Herren. Leistungsloser Wohlstand, so wie er sich auch in der Weitergabe von Vermögen immer wie

der perpetuiert, ist mit einer demokratischen Gesellschaft kaum zu vereinbaren.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Mit dem Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung sollen das öffentliche Bewusstsein für die Risiken sozialer Ausgrenzung gestärkt sowie die Wahrnehmung für ihre vielfältigen Ursachen und Auswirkungen geschärft werden. Soziale Ausgrenzung geschieht - sozusagen in einer dauerhaften Perspektive - vor allen Dingen über mangelnde Bildungschancen. Jedes Kind muss über individuelle Förderung seine Chance erhalten. Für Kinder gibt es kein besseres Versprechen für Aufstieg, als ihnen eine vernünftige Bildung zukommen zu lassen. Dazu gehören Ganztagsschulen, dazu gehört ein kostenloses Mittagessen für bedürftige Kinder, und dazu gehört eine vernünftige Betreuung der Kleinkinder. Dazu gehört aber auch, dass die Kommunen nicht finanziell ausgehungert werden. Auch das Land benötigt die entsprechenden Mittel.

(Zustimmung von Patrick-Marc Hum- ke-Focks [LINKE])

Hier, meine Damen und Herren, ist jeder Euro zigmal besser angelegt als in Steuersenkungen für Reiche oder für Hoteliers oder was Sie sich sonst noch ausgedacht haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben Ihnen mit unserem Haushaltsantrag 2010 ein Finanzierungskonzept vorgelegt, das zusätzliche Finanzmittel aus einer Anhebung des Spitzensteuersatzes, der Erbschaftsteuer, einer Vermögensabgabe sowie der teilweisen Umwandlung des Solidaritätszuschlags generiert. Was wir daraus finanzieren wollen, wäre eine wirklich sinnvolle Investition in die Zukunft unseres Landes.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Danke schön. - Nun hat Herr Kollege Riese von der FDP-Fraktion das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich lese jeden Morgen gerne die Hannoversche Allgemeine Zeitung, in der viel Wahres

und Gutes steht. Aber manchmal stehen auch Dinge drin, die nicht ganz so wahr sind.

(Ursula Helmhold [GRÜNE]: Ehrlich?)

Das ist heute Morgen passiert. Da stand nämlich drin, die Grünen seien keine krawallige Opposition. Das ist nicht so. Die Grünen sind leider manchmal eine krawallige Opposition. Dies haben wir gerade dem Redebeitrag der geschätzten Kollegin Frau Helmhold gut entnehmen können.

(Ursula Helmhold [GRÜNE]: War das Krawall? Dann sind Sie aber sehr niedrigschwellig an dieser Stelle!)

Meine Damen und Herren, zu Beginn des Europäischen Jahres zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ist es gut, dass wir uns heute wieder einmal über den Begriff der Armut unterhalten. Das haben wir oft getan. Wir werden es im Ausschuss sorgfältig und auch in der Zukunft tun. Wir müssen uns dabei über relative und über absolute Armut unterhalten.

Ich meine mich zu erinnern, dass es der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt war, der vor wenigen Jahren im Zusammenhang mit der Diskussion zur Grundsicherung darauf hingewiesen hat, dass das materielle Lebensniveau eines Sozialhilfeempfängers in der Gegenwart höher ist als das eines Facharbeiters in den 50er-Jahren.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Was sagt uns das?)

- Das sagt uns, verehrter Herr Jüttner, dass Armut nicht statistisch betrachtet werden darf, sondern u. a. in der Zeitreihe.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Das stimmt!)

Wer in Deutschland, in Niedersachsen arm ist, hat Unterstützung aus Sozialsystemen verdient, auch vom Steuerzahler; gar keine Frage. Aber in der Diskussion müssen wir die Armut einmal im Vergleich der 27 europäischen Staaten und natürlich auch weltweit betrachten. Dabei wird man dann feststellen, dass absolute Armut bei uns am Ende fast nur denjenigen trifft, der sich nicht helfen oder von den vorhandenen Hilfesystemen nicht begleiten lassen will.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Was sagt uns das?)

Ich lese wirklich mit großer Anteilnahme, wenn sich der einzelne Obdachlose weigert, in frostigen Winternächten eine Unterkunft anzunehmen, und dann auf der Parkbank erfriert. Das muss wirklich nie

mand. Aber es geschieht dennoch, weil es einzelne Individuen gibt, die die umfangreichen Hilfen der Gesellschaft nicht annehmen wollen.

(Kreszentia Flauger [LINKE]: Und jetzt die anderen 99,9 %!)

Nun zurück zum statistischen Armutsbegriff, mit dem wir uns, wie gesagt, noch intensiv beschäftigen werden. Jedem ist bekannt: Wenn ein Milliardär aus Niedersachsen in ein anderes Land fortzieht, dann bedeuten 60 % des durchschnittlichen Einkommens plötzlich etwas anderes, weil sich die statistischen Werte verschoben haben, ohne dass es irgendjemandem, der ein geringes Einkommen hat, in irgendeiner Weise schlechter oder besser ginge als zuvor. Nur der statistische Durchschnitt hat sich verschoben. Ähnliches gilt auch für umfassendere Veränderungen in der Bevölkerung, die wir tatsächlich haben.

Herr Humke-Focks hat an dieser Stelle das Ziel verkündet, Armut zu beseitigen - ein hehres Ziel. Ich hoffe, dass jeder irgendwann in seiner Jugend einmal links gedacht und gehofft hat, die Armut beseitigen zu können.

(Kreszentia Flauger [LINKE]: Lissa- bon-Strategie!)

Aber solange wir uns über relative Armut und auch darüber unterhalten, dass derjenige, dessen Einkommen 60 % unter dem durchschnittlichen Einkommen liegt, arm ist, werden wir die Armut nicht beseitigen können; denn es wird immer Einkommensunterschiede geben. Es wird immer dazu kommen, dass gering Qualifizierte geringere Einkommen haben als hoch Qualifizierte, die entsprechende Tätigkeiten gefunden haben.

In dem Antrag der Fraktion der Grünen sehe ich gute Ansätze, z. B. in einem so schönen Satz wie:

„Der beste Schutz gegen Armut von Kindern ist die Erwerbstätigkeit der Eltern.“

Mit den Implikationen eines solchen Satzes werde ich mich mit Ihnen gerne sehr intensiv unterhalten.

Andererseits geht der Umstand, dass man zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung das gesamte GrünenWahlprogramm zum geistigen Bestandteil des Niedersächsischen Landtages macht, doch etwas über meine Vorstellungskraft hinaus.

Einzelne Forderungen - ich möchte nur eine Forderung ansprechen - wie ein kostenloses Mittages

sen für bedürftige Kinder müssen gerade im Lichte der neueren Aufgabe, die wir bekommen haben, nämlich uns über die Bemessung der Grundsicherung neu zu unterhalten, neu gedacht werden. Die öffentliche Hand kann nicht mit der einen Hand in der Grundsicherung die Ernährung komplett leisten und mit der anderen Hand zusätzlich noch Mahlzeiten ausgeben. Das überfordert tatsächlich die soziale Leistungsfähigkeit des Staates.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Kreszentia Flauger [LINKE]: Sucht euch doch eines von beiden aus!)