Protocol of the Session on March 21, 2012

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Meine Damen und Herren, jetzt liegt die Wortmeldung von Frau Korter von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Frau Korter, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Försterling, wenn man Sie so hört, dann merkt man: Die Bertelsmann-Studie und die Studie der TU Dortmund haben bei Ihnen offensichtlich einen wunden Punkt getroffen. Ich könnte mir sonst nicht erklären, wieso Sie und der Kollege von Danwitz so schnell auf diese am 11. März veröffentlichte Studie reagiert haben.

(Reinhold Hilbers [CDU]: Wir sind im- mer schnell!)

Während der Kollege von Danwitz die Aussagekraft des Chancenspiegels sofort infrage gestellt hat, haben Sie sich in der Strategie „Angriff als

Verteidigung“ geübt und gemeint, Sie müssten die Studie erst einmal lächerlich machen.

Meine Damen und Herren, der Chancenspiegel kritisiert zwei Dinge: das insgesamt unzureichende Leistungsniveau und die soziale Ungerechtigkeit des Bildungssystems. Mit Ihren hitzigen Reaktionen - hier gerade wieder - haben Sie den billigen Versuch unternommen, beide Aspekte gegeneinander auszuspielen - die Leistungsfähigkeit und die soziale Auslese -, um damit die Frage der sozialen Gerechtigkeit unter den Tisch zu kehren. Das wird Ihnen aber nicht gelingen.

Uns geht es um beides: Es geht uns darum, die Leistungen der Kinder zu verbessern, und es geht uns auch darum, alle Kinder - egal, aus welcher sozialen Schicht sie kommen - optimal in der Schule zu fördern. Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Das ist aber auch eine Frage unserer wirtschaftlichen Zukunft. Wir können es uns doch überhaupt nicht leisten - Stichworte „Fachkräftemangel“ und „demografischer Wandel“ -, die Potenziale auch nur eines einzigen Kindes verloren gehen zu lassen. Das haben wir früher oft als Lippenbekenntnis gehört. Durch diese Studie können wir feststellen, dass das immer noch viel zu oft der Fall ist.

Meine Damen und Herren, ganz neu waren die Kernaussagen der Studie tatsächlich nicht. Schon seit der ersten PISA-Studie von vor zehn Jahren wissen wir, dass Kinder aus unteren sozialen Schichten auch bei gleichen Leistungen weitaus geringere Chancen haben, auf ein Gymnasium zu kommen, als Kinder aus den oberen Schichten.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Das wollen Sie abschaffen!)

Eine neue Aussage im Chancenspiegel ist aber - und das ist es ja, was Sie so aufregt und was Sie nicht wahrhaben wollen -: Niedersachsen gehört auch noch zehn Jahre nach PISA I zu den Schlusslichtern in Deutschland. Niedersachsen ist auf dem drittletzten Platz, wenn es um die Chancen von Kindern aus benachteiligten Familien geht, auf ein Gymnasium zu kommen. Und Niedersachsen ist Vorletzter, wenn es um die Chancen geht, innerhalb des gegliederten Schulsystems aufzusteigen. Da können Sie, Herr Försterling und Herr von Danwitz, noch so viel von Durchlässigkeit reden. Sie steht zwar gerne auf dem Papier, aber sie findet in der Realität nicht statt.

(Zustimmung bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Seit ihrem Amtsantritt vor neun Jahren hat die schwarz-gelbe Landesregierung nichts unternommen, um die soziale Ungerechtigkeit in unserem Schulsystem in Niedersachsen abzuschaffen. Im Gegenteil: Sie haben mit Ihrer Politik der Auslese in der Schule diese noch perfektioniert. Sie haben die Orientierungsstufe, die immerhin den Bildungsweg zwei Jahre länger offen hielt, abgeschafft. Sie haben die Neugründung von Gesamtschulen, die längeres gemeinsames Lernen und damit mehr Chancen für Kinder aus unteren Schichten realisiert, erst verboten und jetzt mit unglaublich hohen Hürden versehen. Und Sie haben den Lernstress mit dem Turboabi an das Gymnasium und an die IGS gebracht.

Herr Althusmann, meine Damen und Herren von CDU und FDP, Sie sagen immer, Sie wollen nicht über Strukturen reden, sondern über Qualität. Tatsächlich haben Sie aber neun Jahre Ihrer Regierungszeit damit vertan, immer neue Hürden in der Schulstruktur einzuziehen, statt endlich mehr Qualität zu schaffen. Sie haben in Niedersachsen die Selektivität verschärft, anstatt sie abzubauen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN - La- chen bei der CDU)

Sie haben nirgends die Qualität verbessert, im Gegenteil: Sie schaffen gerade den großen, flächendeckenden Auftrag der Schulinspektion ab und stampfen ihn auf ein Minimalniveau ein. Sie haben nichts dafür getan, dass sich die Schulen tatsächlich für den Schulerfolg ihrer Schülerinnen und Schüler verantwortlich fühlen, statt immer noch mit Abschulung und Sitzenbleiben zu agieren. Ganztagsschulen sind ein Lightmodell, sind keine echten Ganztagsschulen, sondern nur Ganztagsangebote. Gerade hier könnten Kinder aus benachteiligten Familien, die zu Hause keine Unterstützung erfahren, bessere Chancen haben.

Herr Althusmann, Herr von Danwitz, Herr Försterling, ich muss feststellen: Sie haben nichts getan, um die Bildungschancen von Kindern aus Schichten zu verbessern, in denen man nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wird, in denen man mit einer anderen Sprache aufgewachsen ist oder in denen man sich mit Handicaps durchs Leben beißen muss. Herr Althusmann, dieser Chancenspiegel ist der blaue Brief für Sie. Aber Sie sind offenbar weder willens noch in der Lage, daraus zu lernen. Ich glaube, bei FDP und CDU geht man nach dem Motto vor - das haben wir vorhin schon gedacht, als wir Ihre Reden gehört

haben -: Meine Meinung steht fest, belästigen Sie mich nicht weiter mit Fakten. - Die Quittung dafür werden Sie im Januar 2013 erhalten.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Minister Althusmann für höchstens fünf Minuten.

(Heiterkeit - Björn Thümler [CDU]: Das ist bei Kultuspolitikern ein guter Hinweis! - Dr. Gabriele Andretta [SPD]: Das wird aber schwierig!)

Bitte!

Vielen Dank für den freundlichen Hinweis. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will es einmal mit den Fakten versuchen: Frau Reichwaldt und auch Frau Korter haben hier gerade behauptet, nach der Grundschule in Niedersachsen werde besonders selektiert, und danach hätten gerade Kinder aus Migrationsfamilien oder sozial schwachen Familien besonders wenig Chancen auf bessere Bildung. Frau Korter hat sogar gesagt, die Selektivität in Niedersachsen werde gerade in diesem Bereich verschärft.

Zitieren wir dazu doch einfach einmal aus der Bildungsstudie! In der Zusammenfassung steht auf der Seite 23:

„Kinder aus bildungsfernen Familien liegen vor allem in den Stadtstaaten bis zu zwei Schuljahre zurück. In der Primarstufe ist der Einfluss des sozialen Hintergrunds auf die Leistung in Bayern, Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt im innerdeutschen Vergleich am geringsten.“

(Astrid Vockert [CDU]: Das hat sie nicht vorgelesen! - Gegenruf von Ina Korter [GRÜNE])

- Den Satz haben Sie nicht vorgelesen, Frau Korter. - Der nächste Satz, Frau Reichwaldt, lautet:

„In der Sekundarstufe I gelingt es Brandenburg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen am besten, diesen Einfluss zu reduzieren.“

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Hört, hört!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben - um bei dem Bild des Abgeordneten Försterling zu bleiben - offensichtlich nur das herausgewühlt, was in Ihr Weltbild passt. Aber die Fakten, die wirklich dahinter stehen, haben Sie überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Es vergeht kein Monat in Deutschland, in dem nicht eine neue Bildungsstudie die Republik erschüttert. Ein Mehrwert an Erkenntnis ist damit aber in aller Regel kaum verbunden. Dies kann auch nicht verwundern, zumal längst bekannte Daten in neue vermeintliche Zusammenhänge gesetzt werden, in diesem Fall zu konstruierten Dimensionen wie Kompetenzförderung, Zertifikatsvergabe, Integrationskraft, Durchlässigkeit mit Blick allein auf das Erreichen des Abiturs.

Das Erreichen des Abiturs zum Maßstab für die Leistungsfähigkeit und die Qualität eines Bildungssystems zu machen, halte ich persönlich nicht für sachgerecht. In Berlin, Hamburg und Bremen sind die Chancen auf einen Gymnasialbesuch sehr hoch oder teilweise mittel. In Bayern und Niedersachsen sind sie deutlich geringer. Nun möge mir aber einmal jemand erklären, warum gerade diese Bundesländer, die ich zuerst nannte, bei allen zurückliegenden, auch innerdeutschen Bildungsvergleichen trotz hoher Investitionen - gerade in Hamburg - nahezu an letzter Stelle liegen.

Meine Damen und Herren, Länder wie Sachsen mit einem durchschnittlichen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund von gerade einmal 3 % mit Ländern wie Niedersachsen - hier liegt dieser Anteil bei knapp 30 % - oder sogar NordrheinWestfalen, wo der Anteil noch höher liegt, zu vergleichen, erscheint mir zumindest bedenklich.

(Vizepräsidentin Astrid Vockert über- nimmt den Vorsitz)

Länder mit freiem Elternwillen mit Ländern ohne freien Elternwillen, also mit klaren Zugangsbeschränkungen, zu vergleichen - auch das dürfte bei einer Studie zumindest einmal hinterfragt werden. Auch ob der Maßstab „100 Bücher im Haushalt oder weniger“ im Zeitalter neuer Medien ein valider Maßstab für Bildungsteilhabe ist, kann zumindest kritisch hinterfragt werden.

Was dieser Chancenspiegel aber meines Erachtens sträflich ausblendet: Die Menschwerdung in Deutschland beginnt nicht mit dem Abitur!

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

41 % der jungen Menschen in Deutschland kommen über das berufliche Ausbildungssystem an unsere Hochschulen.

(Glocke der Präsidentin)

Dieser Anteil steigt zunehmend an.

Zu den Fakten: Die Abiturquote hat von 1990 bis 2003, in diesen 13 Jahren - sage und schreibe -, von 25,1 % auf 25,3 % zugenommen. In den Regierungsjahren der CDU/FDP-Koalition stieg die Abiturquote von 25,3 % bis 2009/2010 auf rund 33 % an, also rund 8 Prozentpunkte mehr.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Aufgrund des doppelten Abiturjahrgangs haben wir im letzten Jahr sogar eine Abiturientenquote von fast 52 % erreicht. Kurz gesagt: In den Jahren unserer Regierung haben immer mehr Jugendliche in Niedersachsen eine Chance auf das Abitur bekommen, und sie haben diese auch ergriffen;

(Glocke der Präsidentin)

wohlgemerkt bei freiem Elternwillen, wohlgemerkt bei rund 41 % der Schülerinnen und Schüler, die niedersächsische Gymnasien besuchen, hat jeder eine Chance.

Die Ursache für die geringe Zahl von Schülern aus sozial schwächeren Verhältnissen oder aus Migrantenfamilien, die ein Gymnasium anwählen, dürfte eine andere sein. Diese Entscheidung hat sehr oft mit familiären Strukturen zu tun. Das sagen andere Studien aus, die es dazu gibt, von Herrn Köller und anderen. Obwohl eine Gymnasialempfehlung vorliegt, schicken diese Eltern mit Migrationshintergrund ihre Kinder sehr oft nicht aufs Gymnasium, weil sie Angst haben, dass ihre Kinder dort überfordert werden könnten.

Hier gilt es anzusetzen. Hier gilt es, die Eltern stärker zu erreichen. Hier gilt es, auch den jungen Menschen zu sagen, welche Chancen sich im beruflichen Bildungsbereich ergeben, dass es eine duale Berufsausbildung gibt. Auch dies ist bei diesen Menschen offensichtlich nicht ausreichend bekannt.

Herr Minister, ich darf Sie an die Redezeit erinnern.

Ja, ich komme zum Schluss.