Protocol of the Session on May 17, 2006

Ich nenne besonders die Angehörigen, die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die vielen Ehrenamtlichen und natürlich die Verbände, die hier Bewundernswertes leisten.

Die Eingliederungshilfe hat sich zum zentralen Feld niedersächsischer Sozialpolitik entwickelt. Das zeigt sich auch im Einsatz von Landesmitteln und kommunalen Mitteln. Allein der Landeshaushalt 2006 setzt fast 1,3 Milliarden Euro netto an. Das ist weit mehr als die Hälfte des Sozialhaushalts.

Heute steht die Eingliederungshilfe in Niedersachsen vor großen Herausforderungen. Die Nettoausgaben steigen jährlich um durchschnittlich rund 50 Millionen Euro, und zwar trotz Nullrunden bei den Pflegesätzen seit 2004. Die Zahl der 60jährigen und älteren Menschen mit Behinderung steigt dynamisch und wird sich bis 2014 verdoppeln. Ebenso verzeichnen wir einen stark ansteigenden Anteil behinderter Kinder an allen Kindern im Vorschulalter. Das bedeutet: Inzwischen fragt rund jedes zehnte Kind im Vorschulalter Angebote der Eingliederungshilfe nach.

Dem stark steigenden Hilfebedarf stehen die immer noch verfassungswidrigen Haushalte des Landes Niedersachsen gegenüber. Die Sparanstrengungen der neuen CDU/FDP-Mehrheit müssen deshalb unvermindert fortgeführt werden.

(Beifall bei der CDU und Zustimmung bei der FDP)

Umso mehr Handlungsbedarf löst deshalb die Tatsache aus, dass es noch nicht gelungen ist, das Leistungs- und Vergütungssystem der Eingliederungshilfe aus seiner Erstarrung zu befreien. Nullrunden lösen das Problem nicht, sondern können sogar bei Einrichtungen die Insolvenzgefahr begründen, die jahrelang sparsam gewirtschaftet haben und nun am unteren Ende des Vergütungskorridors liegen.

Der Entschließungsantrag nennt deshalb vordringliche Herausforderungen in der Eingliederungshilfe:

Der erste Punkt ist der deutlich steigende Bedarf an zusätzlichen Wohn- und Werkstattplätzen.

Zweiter Punkt ist die Schaffung von Wohnformen und Tagesstruktur für ältere Menschen mit Behinderungen, die aufgrund ihres Alters, nachlassender Kräfte oder Demenz nicht mehr in der Werkstatt oder Fördergruppe tätig sein können. Zu diesem Fragenkreis hat im Dezember vergangenen Jahres ein Treffen der leitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Wohnbereichen der Lebenshilfe stattgefunden. Daraus hat die Lebenshilfe ein sehr interessantes Positionspapier gemacht. Es enthält gute Praxisbeispiele und Lösungsvorschläge, beispielsweise in den Bereichen Tagesstruktur, ambulant unterstütztes Wohnen, Wohnstätten und Tagesstätten.

Dritter Punkt der Herausforderungen ist das Schaffen von Ausbildungs-, Förder- und Beschäftigungsangeboten sowie Wohnangeboten für Menschen mit hohem und sehr hohem Hilfebedarf, die innerhalb ihrer Familien nicht mehr betreut werden können. Hierbei zeigt sich das Problem, dass alt gewordene Eltern vielfach nicht mehr imstande sind, die Belastungen zu tragen. An dieser Stelle sage ich deutlich: Spezielle Pflegeeinrichtungen zu eröffnen, wäre ein deutlicher Schritt zurück gegenüber dem, was moderne Eingliederungshilfe und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft ausmachen.

Wir sollten uns nicht mehr die Frage stellen, ob Leistungen der Eingliederungshilfe für die Frage der Wahl der Einrichtung oder Leistungen der Pflege im Vordergrund stehen, sondern wir sollten die Frage stellen, ob die jeweilige Einrichtung in der Lage ist, den gesamten Betreuungs- und Pflegebedarf des Menschen mit Behinderungen zu decken.

Zur Fortentwicklung der Eingliederungshilfe gibt es seit geraumer Zeit vertiefte Anstrengungen von Land und Kommunen. Zuletzt hat es eine sehr gute Veranstaltung des Sozialministeriums im Dezember vergangenen Jahres im Landkreis Hildesheim gegeben. Daran haben fast alle niedersächsischen kommunalen Sozialhilfeträger teilgenommen. Thema waren Kriterien und Verfahren zur Feststellung einer abgestimmten ambulanten, teilstationären oder stationären Versorgung. Am 17. März fand gerade die Fachtagung des Paritätischen Niedersachsen in Hannover zur Zukunft der Eingliederungshilfe statt.

Die Fachdiskussion zeigt nun, dass noch viele ungenutzte Chancen in den modernen Instrumenten der Eingliederungshilfe liegen, die jetzt zuneh

mend entwickelt werden. Sie reichen von Fachstellen für Bedarfsfeststellung und Hilfeplanung über Hilfekonferenzen bis hin zum persönlichen Budget. Noch ein größerer Teil der in stationären Einrichtungen lebenden Leistungsberechtigten könnte ambulant betreut wohnen.

(Unruhe - Glocke der Präsidentin)

Es wird in den nächsten Jahren sehr darauf ankommen, bei der Neuinanspruchnahme von Eingliederungsangeboten zu einer Kappung im stationären Bereich dank der neuen Möglichkeiten zu kommen. Dabei ist unbestritten, dass die stationäre Eingliederungshilfe auch in Zukunft ihren Platz haben wird. Ich stimme Herbert Burger, dem Chef der niedersächsischen Lebenshilfe, zu, dass wir nicht zu einer Vereinsamung aus Kostengründen kommen dürfen, die anstelle von Integration und Miteinander tritt.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Beim Abbau unsinniger bürokratischer Anforderungen ist noch viel zu tun; das wird immer wieder gesagt. Gerade im Tagesgeschäft müssen unbedingt Erleichterungen kommen, die nicht zu Mehrkosten, sondern sogar zu weniger Kosten führen werden.

Mit dem neuen Niedersächsischen Ausführungsgesetz zum Sozialgesetzbuch XII haben SPD - Entschuldigung, die SPD diesmal nicht, aber in der Vergangenheit vielleicht -, haben also CDU und FDP die Rechtsgrundlage für die deutlich stärkere Herunterzonung der Durchführung der überörtlichen Landessozialhilfeaufgaben auf die kommunale Ebene gelegt.

In diesem Zusammenhang gewinnt die neue Experimentierklausel Bedeutung. Sie ermöglicht die Heranziehung einzelner kommunaler Körperschaften im Bereich der überörtlichen Sozialhilfe zur Erprobung der stärkeren kommunalen Verantwortung, z. B. im Vertragsrecht mit den Leistungsanbietern. Zurzeit verhandelt das Land mit den Kommunen, die an der Wahrnehmung der Experimentierklausel interessiert sind. Wesentlicher Konfliktpunkt ist die Bemessung der Budgets für die Kommunen.

Wir haben die Bitte an das Sozialministerium, die Bemessung so vorzunehmen, dass die Kommunen, die die Experimentierklausel nutzen wollen, zumindest nicht schlechter gestellt werden. Wir

hoffen, dass die Experimentierklausel möglichst bald mit Leben erfüllt werden kann.

Nun muss auch das Sozialministerium die Konsequenzen aus dem neuen Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover ziehen, das sich zur Wirksamkeit bzw. rechtlichen Einordnung der Landesrahmenverträge geäußert hat. Hier liegt nach unserer Auffassung nun die Chance, das neue niedersächsische Konzept zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe mit den aktuellen inhaltlichen und finanziellen Herausforderungen zu verbinden, die wir zu diskutieren haben. - Danke.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Danke schön. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - -

(Zurufe und Unruhe)

- Das ist der letzte Tagesordnungspunkt!

(Zuruf: Das merkt man! - Weitere Zu- rufe - Anhaltende Unruhe)

- Ja. Ich möchte jetzt aber Frau Helmhold verstehen können, wenn sie etwas sagt.

(Bernd Althusmann [CDU]: Das wird mir nie gelingen!)

Sie sind etwas ruhiger. - Herzlichen Dank.

(David McAllister [CDU]: Die verstehe ich seit drei Jahren nicht!)

Sie verstehen mich doch gut, Herr Althusmann. Sie tun nur immer so, als ob Sie mich nicht verstehen.

(Ah! und Oh! bei allen Fraktionen)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

(Weitere Zurufe und Heiterkeit - Bernd Althusmann [CDU] spricht mit Abge- ordneten der CDU-Fraktion)

- Nun kann er sich auch wieder beruhigen. - Dank der rot-grünen Bundesregierung haben wir mit dem Sozialgesetzbuch IX ein recht gut entwickeltes Hilfe- und Rechtssystem für Menschen mit Behinderungen. 2003 hat ebenfalls Rot-Grün das Bun

desgleichstellungsgesetz für Behinderte beschlossen - ein wichtiger und allseits gelobter Meilenstein gegen Diskriminierung und zur Umsetzung des Normalisierungsprinzips für behinderte Menschen. Leider warten wir in Niedersachsen immer noch auf ein Landesgleichstellungsgesetz. Das ist etwas, was Ihnen wahrlich nicht zum Ruhme gereicht.

Wer jetzt den Entschließungsantrag der Regierungsfraktionen liest und auch Passagen der eben gehörten Rede aufmerksam auf sich hat wirken lassen, der fragt sich natürlich sofort: Welchen Hintersinn hat dieser Antrag eigentlich? - Ich finde es schon bedenklich, was sich teils offen und teils zwischen den Zeilen als eigentlicher Beweggrund dieses Entschließungsantrags herauslesen lässt.

Lassen Sie mich zunächst zur bundespolitischen Komponente Ihres Antrags kommen. Es ist noch nicht lange her, da hatte die CDU/CSU in ihrem alten Bundeswahlprogramm ein Bundesleistungsgesetz für Behinderte angekündigt. Das haben Sie 2005 aber schnell wieder herausgestrichen. Dabei hätte das genau der Weg sein können, z. B. hier in Niedersachsen das wirklich nur historisch zu erklärende Landesblindengeld in ein bundeseinheitliches Nachteils- und Teilhabegeld zu überführen. Wenn Sie sich jetzt aber damit herausreden, dass auch von einem mittel- bis langfristig denkbaren steuerfinanzierten Leistungsgesetz keine Antworten zu erwarten seien, dann ist das doch in Wirklichkeit eine Kapitulationserklärung angesichts der Tatsache, dass Sie in Berlin behindertenpolitisch überhaupt nichts Neues anzubieten haben. Dort herrscht Stillstand.

Wenn man Ihren Antrag richtig liest, dann erkennt man, dass Sie hier sogar Rückschritt wollen; denn wie ist ansonsten der Satz zu verstehen - nachdem Sie die stark steigenden Kosten angesichts des steigenden Hilfebedarfs beklagen -, dass es - ich zitiere aus der schriftlichen Begründung des Antrags - „noch nicht gelungen“ ist, „das Leistungsund Vergütungssystem aus seiner Erstarrung zu befreien“? Die Behindertenverbände kriegen garantiert Angst, wenn sie das lesen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, seit 2004 haben die Einrichtungen der Behindertenhilfe eine Nullrunde nach der anderen hinzunehmen und zu bewältigen. Das geschieht auf dem Rücken der Beschäftigten und geht letztlich zulasten der Qualität der

Arbeit. Der enorme Kostendruck hat inzwischen dazu geführt, dass immer mehr Einrichtungen aus Tarifverträgen aussteigen und dabei sind, über Tochtergesellschaften die Löhne zu drücken.

(Unruhe - Glocke der Präsidentin)

Dies ist natürlich letztlich auf Ihren Tarifhardliner Möllring zurückzuführen. Je länger dieser tariflose Zustand andauert, desto länger können Sie die Behinderteneinrichtungen darauf verweisen, dass es nichts zu verhandeln gibt. So sieht Ihre Taktik aus, und so wollen Sie offenbar auch noch weiter verfahren.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Wir sollten froh sein, meine Damen und Herren, dass Menschen mit Behinderungen immer selbstverständlicher ihre eigene Normalität unter uns leben und ihr Recht auf gesellschaftliche Teilhabe wahrnehmen. Dieses Recht muss gewahrt bleiben. Dass es Ihnen nicht viel wert ist, haben Sie ja bereits mit der Abschaffung des Landesblindengeldes bewiesen.

Die Bundesregierung hat sich in der Antwort auf eine Kleine Anfrage für den Grundsatz „Ambulant vor stationär“, die bessere Verzahnung ambulanter und stationärer Bereiche, eine Leistungserbringung aus einer Hand und die Erweiterung des Instruments des persönlichen Budgets, also für den weiteren Auf- und Ausbau eines bedarfsdeckenden Netzes alternativer und ambulanter Betreuungsangebote ausgesprochen. Ihr Antrag lässt demgegenüber eine Tendenz und einen zukünftigen Konflikt erahnen, den wir schon einmal zur Amtszeit der Sozialdemokraten haben ausfechten müssen. Es gibt die unheilvolle Tendenz, jüngere und ältere Behinderte mit hohem und steigendem Hilfebedarf in Pflegeeinrichtungen abzudrängen. Das werden wir auch diesmal nicht zulassen, meine Damen und Herren.

Wir leugnen nicht, dass neue Antworten gefunden werden müssen, z. B. durch eine Änderung des Pflegeversicherungsgesetzes. Aber Behinderte haben zuallererst Anspruch auf Eingliederungsleistung; daran werden wir festhalten.

Eine weitere Gefahr droht von der Föderalismusreform. Wenn, wie die Verbände dargelegt haben, den Ländern abweichende Verfahrensvorschriften zu den Sozialgesetzbüchern gestattet werden sollten, dann werden wir erst recht - wie übrigens auch in der Altenhilfe - eine grundlegende Debatte