Protocol of the Session on April 21, 2016

All das Positive muss jedoch mit einem Aber versehen werden. Das ist zum einen der Zeitpunkt, zu dem uns diese Unterrichtung vorgelegt wird. Schauen wir mal zurück: 2012 wurde das Bundesgesetz zur Änderung des Kinderschutzgesetzes erlassen. Gleich zu Anfang der Legislaturperiode wurde seitens der Landesregierung aus dem geänderten Bundeskinderschutzgesetz ablei

tend ein Landesgesetz in Aussicht gestellt. So heißt es bereits im Koalitionsvertrag unter Punkt 273: „Die Aktivitäten und Planungen zum Kinderschutz werden systematisch in einem Kinderschutzgesetz und im Anschluss daran in einem Landesprogramm Kinderschutz MV zusammengefasst.“ Das Landesprogramm liegt uns nun vor. Wo bleibt das Gesetz?

Inhaltliche Schwerpunkte dieses Gesetzes sollten insbesondere die erfolgreichen Maßnahmen des Landes im Kinderschutz sein, wie das Landesprogramm Familienhebammen, die Kinderschutzhotline oder aber das Bündnis Kinderschutz. So lauteten noch die Antworten auf Kleine Anfragen. Das Landesgesetz wurde dann vom zuständigen Ministerium, dem Sozialministerium, im März 2012 für das zweite Quartal 2013 angekündigt. 2013 wurde es verschoben auf 2014, 2014 auf 2015. Bis heute hat uns kein Kinderschutzgesetz erreicht. Auf Nachfrage im Au- gust 2013 wurde uns seitens der Landesregierung geantwortet: „Vom Gesetzentwurf eines Landeskinderschutzgesetzes wird kein Abstand genommen.“ Um es abzukürzen: Das Gesetz kam nie, uns liegt das Landesprogramm vor.

Was zeigt uns dieser Ablauf? Die Landesregierung hat die Notwendigkeit eines Kinderschutzgesetzes geprüft und einen Referentenentwurf erarbeitet. Sie sah die Notwendigkeit. All dies geschah seit Anfang der Legislaturperiode. Welche Konsequenzen folgen daraus?

Erstens. Die Landesregierung muss irgendwann mal zu der Erkenntnis gekommen sein, von der Erarbeitung des Landesgesetzes Abstand zu nehmen. Eine Information hierüber erfolgte sowohl im Sozialausschuss als auch im Landtag nie. Von Transparenz kann insofern keine Rede sein. Von daher erwarte ich heute im Rahmen der Diskussion seitens der Sozialministerin, dass sie in ihren Ausführungen auch darlegt, warum uns heute ein weniger verbindliches Landesprogramm anstatt eines Landeskinderschutzgesetzes vorliegt. Die Gründe hierfür wurden uns, wie gesagt, nie mitgeteilt.

Zweitens. Der Kinderschutz wird erst dann wieder thematisiert, wenn Probleme auftreten – also viel zu spät. So wichtig kann der Landesregierung der Kinderschutz dann doch nicht sein. Wie erklärt es sich sonst, dass wir jetzt, kurz vor dem Ende der Legislaturperiode, eine Unterrichtung erhalten? Wir haben kaum noch die Möglichkeit, diese Unterrichtung im zuständigen Ausschuss zu beraten, geschweige denn mit Praktikern Anhörungen zum Kinderschutz durchzuführen – und das, wie gesagt, vor dem Hintergrund, dass die Landesregierung seit Anfang der Legislaturperiode 2011 an dem Thema arbeitet. Also auch hier noch mal meine Frage: Warum erst jetzt?

Deshalb bleibt das Landesprogramm für mich fragwürdig. Das zeigt sich auch an den Inhalten. Es wird wiedergegeben, welche Aktionen, welche Maßnahmen und welche Programme es im Land gab und gibt, und es wird eine Bestandsaufnahme zu den rechtlichen Regelungen gemacht. Ganz am Ende, in der Zusammenfassung gesteht das Ministerium dann selber ein, dass die Entwicklungsperspektiven von Kindern weiter verbessert werden müssen und vor allem, dass noch zu prüfen bleibt, ich zitiere: „ob das vorliegende Programm insgesamt Wirkung zeigt, ausreichende Impulse setzt oder weitere Akzentuierungen erforderlich sind“.

Es gibt also noch viel zu tun. Wer das Thema Kinderschutz wirklich ernsthaft betreiben will, beschäftigt sich

mit Kinderschutz nicht erst, wenn etwas passiert, das hatte ich bereits gesagt. Nur so kann man sich unabhängig vom Einzelfall den Strukturen näher widmen und beraten, wo strukturelle Ursachen für Defizite liegen. Diese Möglichkeit ist uns nun mit dem späten Vorlegen des Landesprogramms genommen.

DIE LINKE hatte bereits im Oktober 2014 beispielsweise gefordert, den in diesem Zusammenhang stehenden Landesaktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Kinder nach neun Jahren endlich anzupassen und dass insbesondere Kinder und Jugendliche als Mitbetroffene von häuslicher und sexualisierter Gewalt in den Schutz- und Beratungseinrichtungen pädagogische und psychologische Betreuung durch Fachpersonal erhalten. Der Dritte Landesaktionsplan zur Bekämpfung von häuslicher und sexualisierter Gewalt wurde schließlich am 14. April 2016 vorgelegt, also Ende letzter Woche. Über den Einsatz von Fachpersonal für die zu betreuenden Kinder der von Gewalt betroffenen Frauen finde ich da aber nichts.

Dann sind wir auch schon bei dem Inhalt des Landesprogramms, bei dem sich aus unserer Sicht weitere Fragen stellen. Die Unterrichtung ist eine Fleißaufgabe, keine Frage, eine erste Bestandsaufnahme des Kinderschutzes im Land. Allerdings ist sie eine wenig kritische Bestandsaufnahme. Zu den bereits angesprochenen Schutz- und Beratungseinrichtungen, sprich Beratungsstellen und Frauenhäusern, die wir hier im Landtag mehrfach diskutiert haben und wo es Probleme und Herausforderungen gibt, findet sich in der Unterrichtung die Aussage, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Frauenhäusern nur auf die Unterstützung der traumatisierten Frauen spezialisiert seien. Der Schutz der sie begleitenden Kinder und Jugendlichen obliegt dem zuständigen öffentlichen Jugendhilfeträger. Die Landesregierung wirke aber darauf hin, dass diesem zur unmittelbaren Betreuung der Kinder in den Frauenhäusern jeweils eine zusätzliche Fachkraft pro Einrichtung zur Verfügung gestellt werde. Dazu sucht sie das Gespräch mit den kommunalen Verantwortungsträgern. Wie aber wollen Sie darauf hinwirken, wenn Sie hierfür keine finanziellen Mittel zur Verfügung stellen? Zusätzliche Gelder sind nach den Worten nicht zu erwarten. Eine Frage, die aus unserer Perspektive offenbleibt.

Des Weiteren finden wir im Landesprogramm die Aussage, dass es nicht abschließend sei. Vielmehr bestehe die Absicht, eventuelle Lücken und Bedarfe zu identifizieren. Hier stellt sich mir die Frage, wie das geschehen soll und innerhalb welchen zeitlichen Rahmens das geschehen soll. Wenn wir dann im Landesprogramm weiterlesen, finden wir beispielsweise die Feststellung, dass insbesondere Kinder in der Altersgruppe von null Jahren bis zu einem Jahr bei Kindeswohlgefährdung bezüglich der Vernachlässigung betroffen seien. Gerade die bis zu einem Jahr alten Kinder werden überwiegend zu Hause betreut. Sie sind also noch nicht in den Kindertageseinrichtungen, wo Erzieherinnen und Erzieher auf die Kinder schauen können.

Um hier Gefährdungen zu sehen, sind zum einen die U-Untersuchungen im Land geeignet und zum anderen gibt es die Familienhebammen. 2015 beispielsweise hatten wir 55 Familienhebammen für ganz MecklenburgVorpommern, die auf Grundlage des Landesprogramms aktiv sind. Insgesamt gibt es 77 fortgebildete Fachkräfte mit der Zusatzqualifikation zur Familienhebamme in

Mecklenburg-Vorpommern, 9 weitere befinden sich in der Ausbildung. Also auch hier die Frage: Schaffen wir es, die Familien in den Landkreisen oder kreisfreien Städten durch die Familienhebammen zu erreichen, um so auch die Gefährdungspotenziale der null- bis einjährigen Kinder zu verringern?

Für die im Landesprogramm beschriebene Neuregelung des Rechtsanspruches auf psychosoziale Prozessbegleitung für Kinder, Jugendliche und besonders schutzbedürftige Erwachsene zum 1. Januar 2017 bleibt die Frage offen, wie die Umsetzung personell und finanziell ausgestattet werden soll. Was ich im Landesprogramm überhaupt nicht finde oder nur mit einem Wort, sind die Opferambulanzen bei den Rechtsmedizinischen Instituten. Diese sichern die Beweise nach Gewalteinwirkungen bei Kindern und Jugendlichen und bei Betroffenen. In dem Landesprogramm wird sich kaum mit diesen Institutionen auseinandergesetzt. In den letzten Jahren war es immer wieder schwierig, diese wichtige Aufgabe auch finanziell abzusichern. Nach unserer Kenntnis – vielleicht können Sie heute mit anderen Zahlen kommen – werden sie durch das Land mit 16.000 Euro pro Jahr gefördert. Fahrkosten et cetera tragen die Mitarbeiter selber und all diese Arbeit erfolgt im Ehrenamt. Deshalb die Frage: Wie schätzt die Landesregierung deren Arbeit im Zusammenhang mit dem Kinderschutz ein und wie soll es weitergehen?

Auch zu den Erziehungsberatungsstellen, die den Eltern bei der Erziehung Unterstützung und Hilfe geben und so Gefährdungspotenziale verringern, finde ich nichts im Landesprogramm niedergeschrieben. Daher noch mal das Fazit: Gut, dass uns das Landesprogramm vorliegt, das ist ein erster Schritt, ein richtiger Schritt, aber es muss weiter daran gearbeitet werden, was ja auch der eigene Anspruch der Landesregierung ist. Da auch wir noch Fragen haben und Kinderschutz uns alle angeht, beantragen wir die Überweisung in den Sozialausschuss. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE)

Danke.

Ich habe versehentlich gesagt, dass es eine Einbringung ist. Das ist eine Unterrichtung und Aussprache und von daher gilt das nicht als Einbringung.

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Mucha von der SPDFraktion.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der von mir sehr geschätzte Kollege Holter, der im Moment nicht hier ist, hat dieser Tage verlautbaren lassen, die heutige Debatte zum Landesprogramm Kinderschutz würde eine sehr emotionale Debatte werden.

(Unruhe bei Thomas Krüger, SPD, und Regine Lück, DIE LINKE)

Regine, ich habe den Zwischenruf nicht verstanden, falls das einer sein sollte.

(Regine Lück, DIE LINKE: Man muss nicht jeden Zwischenruf verstehen.)

Ach so, okay, danke. Den muss ich nicht verstehen. Das habe ich verstanden.

(Torsten Koplin, DIE LINKE: Im Protokoll steht „Zuruf“.)

Also diese Äußerung vom Kollegen Holter hat mich, ehrlich gesagt, ein wenig verwundert. Sicherlich, jedes einzelne Kind, das Opfer von Vernachlässigung, Missbrauch oder Gewalt wird, jedes Kind, dem die Möglichkeit und das Recht auf eine unbeschwerte Kindheit genommen wird, jedes Kind, das zum Erwachsenwerden und -sein gezwungen wird, ehe es die Chance auf „Einfach-Kind-Sein“ hatte, ist ein Kind, das uns emotional anrührt. Es wäre auch schlimm, wenn dem nicht so wäre. Es wäre sogar wider unsere menschliche Natur.

Empathie ist eine hervorragende Motivation, Kindeswohl und Kinderschutz anzugehen. Doch sie ist oft ein schlechter Ratgeber, wenn es um die zu ergreifenden Aktivitäten geht. Ich weiß wohl, worauf Kollege Holter angespielt hat: auf den Fall der Landeshauptstadt Schwerin, wo binnen weniger Jahre menschliches ebenso wie strukturelles Versagen im Jugendamt erst zum tragischen Tod eines kleinen Mädchens und dann zum systematischen Missbrauch von Kindern beigetragen haben. Ja, diese Fälle haben eine sehr emotionale Komponente. Gerade diese Fälle aus Schwerin sind doch gute Beispiele dafür, dass das Landesprogramm Kinderschutz notwendig ist.

(Vizepräsidentin Beate Schlupp übernimmt den Vorsitz.)

Kinderschutz wird seitens der Landesregierung als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden. Wir können Kinderschutz weder allein bei den Familien noch bei der Gesellschaft oder bei öffentlichen Institutionen verorten. Guter Kinderschutz bedingt, dass alle Akteure, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, im Hinblick auf die Fragen zum Wohl der Kinder miteinander vernetzt arbeiten. Guter Kinderschutz bedingt, dass das notwendige Gespür für Probleme schwerer wiegt als der zuständige Finanzer, der mit dem Haushaltsplan warnend winkt.

Kinderschutz ist eine Arbeit, die selten echtes Lob und Anerkennung medialer Natur erfährt. Denn wenn Kinderschutz funktioniert, wenn alle Akteure gut zusammenarbeiten und ein Kind trotz ungünstiger Startbedingungen ohne Vorfälle und unbeschwert groß werden kann, dann ist das keine Nachricht wert. Es ist einfach der Normalfall, den wir uns für jedes Kind wünschen. Die Medien werden leider oft nur aktiv, wenn all dies nicht greift und Kinder zu Opfern geworden sind. Ich möchte daher auch die Debatte nutzen, um all denjenigen, die ehrenamtlich wie hauptamtlich in unserem Bundesland Tag für Tag dazu beitragen,

(Silke Gajek, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Das ist ihr Job.)

dass Kinder unbeschwert aufwachsen können, meinen besonderen Dank auszusprechen.

(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Landesprogramme sind in erster Linie nur Papier. Erst die Menschen, die das Papier mit Leben und vor allem mit Leidenschaft erfüllen, machen es zu einem Erfolg – darum im Namen meiner Fraktion noch mal ein herzliches Dankeschön.

(Beifall vonseiten der Fraktion der SPD – Zuruf von Peter Ritter, DIE LINKE)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte auch allen Eltern danken, die sich wie selbstverständlich um das Wohl ihrer Kinder bemühen, ihnen Liebe und Glück schenken und sich dafür oft genug selbst einschränken, denn leider sind gute Eltern eben nicht für jedes Kind selbstverständlich.

Für uns Sozialdemokraten gibt es eine klare Vorstellung davon, wie wir uns das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen wünschen würden. Jeder junge Mensch soll unabhängig von seinem Elternhaus, seiner Herkunft und dessen speziellen Rahmenbedingungen die Möglichkeit erhalten, die seinem Potenzial entsprechenden Perspektiven auch tatsächlich zu realisieren. In klaren Handlungsmaximen übersetzt heißt das: Bildungspotenziale aktivieren und verbessern, Risiken und Gefährdungen minimieren und die Bedingungen des Aufwachsens allgemein verbessern. Auch wenn uns die Opposition oft genug vorwirft, das Thema nicht ernst zu nehmen – wir sind dran.

(Silke Gajek, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Na ja, wie?)

Hier ein paar Beispiele: Das Erinnerungssystem bei den U-Untersuchungen ist ein sehr erfolgreiches Modell, das, salopp gesagt, auf unserem Mist gewachsen ist.

(Egbert Liskow, CDU: Oi, oi, oi!)

Das Landesprogramm Familienhebammen ist ebenfalls ein Erfolg

(Silke Gajek, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ja.)

wie auch die Einführung der Kinderschutzhotline oder der Anspruch auf Kindertagesförderung für alle Kinder. Denn in diesem Altersabschnitt, in dem Kinder noch nicht regelmäßig zur Schule gehen, ist die Gefahr groß, Probleme zu übersehen. Wir alle wissen, die Grundlagen fürs Leben werden in den ersten drei Jahren gelegt und erlernt.

(Silke Gajek, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Genau.)

Und ja, auch aktive Armutsbekämpfung ist eine hervorragende Maßnahme zum Kinderschutz. Nur ist aktive Armutsbekämpfung, wenn man die Freiheit des Individuums über staatliche Bevormundung stellt, nicht ganz so einfach, wie uns manchmal erzählt wird.

(Zuruf von Barbara Borchardt, DIE LINKE)

Wir stellen uns dieser Aufgabe. Und nein, liebe Fraktion DIE LINKE, eine Landessozialberichterstattung würde eben nicht die Eier legende Wollmilchsau sein, die all unsere Probleme löst.

(Heiterkeit bei Silke Gajek, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nee, das hat aber auch niemand gesagt.)

Destruktive Statistiken würden viel Papier verbrauchen und wir würden dann sicher wissen, dass beispielsweise

in den Neubaugebieten aus DDR-Tagen mehr Kinder in Armut leben als in den Dörfern oder im Speckgürtel der Städte. Aber auch ich verrate Ihnen mal was: Ihre destruktive Sozialstatistik bringt Ihnen am Ende des Tages nichts, aber auch gar nichts.