Aber ich will gar nicht gehässig sein, sondern sage, dass wir uns über diesen Erfolg freuen. Wir erkennen diesen sehr mutigen Schritt der Schulsenatorin an, das Schulgesetz so zu ändern. Das ist ein verheißungsvoller Auftakt, dem jetzt aber weitere Schritte folgen müssen. Bei diesen Schritten werden wir als Opposition gern die Hand dazu reichen.
Ich habe zur Vorbereitung auf diese Debatte extra noch drei Schulen besucht, zwei Förderschulen und eine Sonderschule. Der Besuch in der Sonderschule Tegelweg war sehr beeindruckend, das räume ich ein. Wer die hochtechnisierte Spezialausrüstung solcher Sonderschulen sieht, die sich mit schwerst- und mehrfachbehinderten Kindern beschäftigen, der weiß, dass es bis zur vollständigen Inklusion in unserem Schulsystem ein wirklich langer Weg ist.
Wer aber mit Verweis auf gerade solche schwierigen Fälle sagt, das ginge alles nicht, dem antworten wir: Lasst uns erst einmal damit anfangen, das Verhältnis von 1:6 energisch zu verbessern, und hier gibt es für zügige Schritte genug Spielraum.
Die Schulbehörde hat jetzt ein Eckpunktepapier entwickelt. Die wichtigsten Punkte in Kürze, sie werden sicherlich gleich von der Senatorin noch einmal erläutert.
Erstens: Förderkinder sollen sich an allen allgemeinen Schulen anmelden können und dort Förderunterricht bekommen. Dieser Förderunterricht soll vorher in Art und Umfang im Rahmen einer Diagnose festgelegt werden.
Zweitens: Dieser Förderunterricht soll von Sonderpädagogen sichergestellt werden, die von Förderzentren an diese allgemeinen Schulen entsandt werden.
Drittens: Eltern sollen zwischen dem Unterricht an der Förderschule und an der allgemeinen Schule wählen dürfen.
Viertens: Leider wird die Zahl der Integrationsklassen und integrativen Regelklassen vorerst nicht erhöht.
Zu diesen einzelnen Punkten nur so viel: Erster Punkt, die Diagnose. Kritiker sagen uns immer wieder, durch Diagnose werden Kinder stigmatisiert und ausgeschlossen. Wir erkennen zwar diesen Einwand an, sind aber in diesem Fall aufseiten der
Schulsenatorin, denn wir glauben, dass eine Diagnose sehr sinnvoll ist. So kann am besten gewährleistet werden, dass Förderressourcen wirklich passgenau beim Kind ankommen und nicht zufällig bei irgendeiner Schule im Vertretungsunterricht, im Sportunterricht oder sonst wo untergemengt werden. Dies halten wir deshalb für einen richtigen Ansatz.
Kritischer stehen wir der Idee gegenüber, Förderzentren zu beauftragen, den sonderschulischen Unterricht an den allgemeinen Schulen sicherzustellen. Diese Idee, die die CDU in der letzten Legislaturperiode bereits in zwei Projekten verwirklicht hat, hat erhebliche Nachteile.
Ich fasse es kurz zusammen: Wenn zwei getrennte Organisationen, die allgemeine Schule und das Förderzentrum, an einem Kind und in einer Schule herumdoktern, gibt es erhebliche Abstimmungsprobleme und Reibungsverluste – im günstigen Fall. Im ungünstigen Fall fühlt sich keiner, das kennen wir schon, zuständig und man arbeitet nebeneinander oder gegeneinander. Vor allem aber bleibt die Sonderpädagogik in der allgemeinen Schule in einem solchen Modell ein Fremdkörper. Diese Behelfskonstruktion, das gestehen wir zu, mag ein Schritt sein, um erst einmal einen Start zu schaffen, aber eine Zukunft hat sie unserer Ansicht nach nicht. Inklusion funktioniert nur dann, wenn die Sonderpädagogik fester Bestandteil in der allgemeinen Schule wird.
Nachdenklich, aber auch kritisch sehen wir die Sache mit der Elternwahl zwischen allgemeiner Schule und Förderschule. Wahl ist gut, aber haben die Eltern dann auch eine echte Wahl? Dies gilt es genauer zu analysieren. Wenn es so bleibt, dass die Förderschulen mit der ganzen technischen und sonstigen Ausstattung ein wesentlich besseres Angebot bilden als die allgemeinen Schulen, dann ist das keine echte Wahl. Deswegen muss man hier genau sehen, dass auch die entsprechenden allgemeinen Schulen in die Lage versetzt werden, Sonder- und Förderschüler angemessen zu fördern. Inklusion kann so auf den Weg gebracht werden, aber dazu müssen die passenden Ressourcen dementsprechend gesteuert werden.
Ob das Eckpunktepapier der Schulbehörde für den Anfang trägt, werden die Erörterungen im Schulausschuss zeigen. Dabei müssen wir uns allerdings auch um Kinder kümmern, die in dieser Diskussion schnell durch das Raster fallen, weil sie einerseits zwar an der allgemeinen Schule sind, andererseits jedoch nicht so richtig Sonder- oder Förderschüler im bisherigen Sinn darstellen.
Der Dekan der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät, Professor Dr. Schuck, hatte in mehreren Sitzungen deutlich gemacht, dass zwar 6 Prozent aller unserer Kinder offiziell Förderbedarf haben, aber in Wahrheit 25 Prozent der Kinder an unseren Schulen tatsächlich besondere Aufmerksamkeit brauchen. Es sind diejenigen, die in der PISA-E-Studie getestet wurden und von denen gesagt wurde, dass sie mit 15 Jahren so schlecht lesen, schreiben und rechnen wie ein Viertklässler. Für diese Kinder hatte die SPD in den Neunzigerjahren die integrativen Regelklassen auf den Weg gebracht. Dank der KESS-Studien wissen wir heute genauer als damals, welche Schulen diese Kinder besuchen. Und dank des Engagements vieler Schulen wurden in den letzten Jahren zahlreiche neue Wege ausprobiert, um diesen Schülern Chancen zu erschließen.
Wir sagen deshalb: Zum Thema Inklusion gehört auch, Maßnahmen zu bündeln und passgenau einzusetzen, um diesen Kindern eine Zukunft zu geben. Wir müssen das Konzept der integrativen Regelklassen zu einem zielgenauen Konzept für mehr Chancengleichheit im Bildungswesen ausbauen.
Ich fasse für die SPD deshalb zusammen: Der Senat hat mit der Änderung des Schulgesetzes eine grundlegende Wende in Richtung auf ein inklusives Schulsystem ermöglicht, das erkennen wir an. Wir sehen ein Eckpunktepapier, das möglicherweise einen ersten Schritt darstellen kann, das aber doch viele Probleme nicht löst, sondern verschiebt. Ob das Papier als erster Schritt taugt, hängt davon ab, ob der Senat die Kraft und den Mut findet, ein umfassendes und langfristig wirkendes Programm und Konzept zu entwickeln. Dieses Konzept muss aber auch vorgelegt werden. Es muss ein Aktionsprogramm sein, in dem für alle Schularten und Klassen erstens konkrete Schritte, zweitens konkrete Zielzahlen zur Integration und Inklusion und drittens auch ein konkreter zeitlicher Rahmen zur Umsetzung verbindlich festgesetzt werden.
In einem ersten Schritt sollten aus unserer Sicht nach wie vor die Integrationsklassen und integrativen Regelklassen in den nächsten zwei Jahren verdoppelt werden. Ein Antrag von uns liegt dazu vor und ist bereits an den Schulausschuss überwiesen worden.
Vorbild sind für uns in diesem Fall einmal mehr die skandinavischen Länder, bei denen zurzeit schon bis zu 90 Prozent aller Kinder mit Förderbedarf in die Regelschulen integriert sind und dort erfolgreich unterrichtet werden. Das wollen wir auch in Hamburg erreichen. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Kollege Rabe hat teilweise die Koalition gelobt, teilweise getadelt. Um eines klarzustellen: Den Tadel weise ich als grundlos zurück.
Denn mit dem neuen Hamburgischen Schulgesetz ist ein Perspektivwechsel hin zur notwendigen, stärkeren Betonung individueller Lernprozesse eingeleitet worden. Diese neue Sicht von schulischen Bildungsprozessen betrifft insbesondere auch Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. CDU und GAL begrüßen als Regierungsfraktionen ausdrücklich diesen Perspektivwechsel hin zu einem Schulsystem, in dem Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf das Recht haben, allgemeinbildende Schulen zu besuchen.
Der Senat und die Gestaltungsmehrheit von CDU und GAL in dieser Bürgerschaft haben mit der Verabschiedung des Schulgesetzes eine für das Bildungssystem in Deutschland wichtige Vorreiterrolle übernommen. Mit dem Schuljahr 2010/2011 wird in jedem Anmeldeverbund mindestens eine integrativ arbeitende Primarschule und in jeder Region eine integrative Stadtteilschule vorhanden sein.
Wichtig ist uns in der Koalition die Ressourcenzuweisung, also die Lehrerversorgung für diese Schulen, denn die Lehrerstellen richten sich künftig nach den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, beginnend mit den neu eingerichteten Klassen 1 und 5 ab dem 1. August 2010.
Den Wert dieser Neuausrichtung der sonderpädagogischen Förderung erkennt man daran, dass dem Schulkind mit festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf die zugewiesenen Lehrerstunden nicht weggenommen werden können oder gar, wie in der Vergangenheit leider viel zu häufig geschehen, an den allgemeinen Schulen umgewandelt werden zu Vertretungsstunden. Das Paket an festgestelltem Förderbedarf bleibt bei dem Schüler oder der Schülerin.
Voraussetzung dafür ist zum Beispiel die Diagnose im Rahmen der Viereinhalbjährigen-Vorstellung. Die Erstellung eines sonderpädagogischen Gutachtens sowie die Prüfung dieses Gutachtens durch die regionale Schulaufsicht und die Schulaufsicht-Sonderpädagogik ist der Weg, den wir als Koalition beschreiten wollen. Dieses Verfahren sichert das Recht der Kinder nach dem Artikel 24 der eben zu Recht zitierten UN-Behinderten
konvention, zusammen mit Nicht-Behinderten unterrichtet zu werden und einen gemeinsamen Weg des Lernens zu beschreiten. Der Lernort muss im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der UN-Konvention dem Kindeswohl dienen.
In der Praxis sieht dies so aus, dass die Schulen, die bisher Integrationsklassen oder entsprechende integrative Regelklassen anboten, ihre Arbeit fortsetzen. Sie nehmen künftig Schülerinnen und Schüler aus der Region mit gutachterlich festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf in allen Förderbereichen auf. Bei einer Überschreitung der Aufnahmekapazitäten der bestehenden I- und IR-Standorte werden in den Regionen – das ist uns wichtig – neue Standorte mit dem Schwerpunkt integrative Förderung eingerichtet. Die Begleitung und Betreuung der neuen Standorte übernehmen neu einzurichtende sonderpädagogische Bildungszentren. Sie stellen diesen neuen Standorten das entsprechend ausgebildete Personal zur Verfügung. Wir richten flächendeckend sonderpädagogische Bildungszentren ein, die sich aus den bestehenden Sonderschulen entwickeln. So wird es Bildungszentren mit der Aufgabe zur Unterstützung der allgemeinbildenden Schulen geben, die diese beraten, Individualdiagnosen durchführen und den sonderpädagogischen Förderbedarf feststellen und absichern.
Bildungszentren – wir haben eben schon einige Beispiele gehört – werden zum Beispiel eingerichtet für Hörgeschädigte, Gehörlose und mehrfach Behinderte. Es wird Bildungszentren geben für Sehbehinderte, Körperbehinderte und geistig Behinderte. Des Weiteren wird es ein Bildungszentrum geben für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Sprachen, Lernen und Verhalten, sowie, das ist neu, für Schülerinnen und Schüler mit autistischem Verhalten sowie körperlichen, geistigen und seelischen Erkrankungen.
Die von Ihnen, Herr Kollege Rabe, vermuteten Reibungsverluste wird es nach unserer Auffassung nicht geben. Wir können mit Zufriedenheit feststellen, dass die Neuerungen des Hamburger Schulgesetzes und insbesondere die in Paragraf 12 festgestellte Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung in einer Vielzahl von Gesprächen und in einer Anhörung auf breite Zustimmung gestoßen sind. Aber auch den Kritikern in den Reihen der sonderpädagogischen Lehrkräfte teilen wir mit, dass eine Verbesserung der bisherigen Lernortsituation unverkennbar ist und wir uns als Koalition mit Augenmaß und Realitätssinn dieser verantwortungsvollen Herausforderung stellen.
Die Eltern mit Kindern, bei denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wurde, können sich an alle regionalen Schulen wenden und sich dort nach den bereits vorhandenen oder geplanten besonderen Förderungsmöglichkeiten erkundigen. Mit dem Aufwachsen dieses neuen För
dersystems in den Klassen 1 und 5 wird sichergestellt, dass die organisatorischen Anforderungen von den Schulen erfüllt werden können.
Zwei Artikel der UN-Konvention – ich zitiere das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – bitte ich zu beachten. Es sind dies der Artikel 7, Kinder mit Behinderungen, und der Artikel 24, Bildung. Beide müssen im Zusammenhang gesehen werden. Artikel 7 Absatz 2 sagt aus – ich zitiere –:
"Bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, …"
Das heißt, wir müssen uns möglicherweise auch von bestimmten ideologischen Vorstellungen verabschieden.
Die sonderpädagogische Förderung erfolgt grundsätzlich im gemeinsamen, individualisierten Unterricht mit Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf, gegebenenfalls differenziert nach Inhalt und Zielen, gegebenenfalls temporär durch eine von Sonderpädagoginnen und -pädagogen hauptamtlich durchgeführte Einzel- oder Kleingruppenförderung, entweder an den allgemeinbildenden Schulen oder an den jeweiligen sonderpädagogischen Bildungszentren.
Ich denke – dafür spreche ich hier auch im Namen der Koalition –, dies ist eine ausgewogene Maßnahme, die keine Schulform überfordert und die die Fehler und Unzulänglichkeiten der jetzigen Schulen wirklich vermeiden hilft.
Mit der Entwicklung eines Eckpunktepapiers unter Einbeziehung aller Förderschwerpunkte, jetzt als Novum auch die Einbeziehung von Kindern mit autistischen Verhaltensweisen, hat Hamburg ein innovatives Konzept für Behinderte und Nichtbehinderte und auch von Behinderungen bedrohte Schülerinnen und Schüler entwickelt. Dieses wird künftig von einer von der Bildungsbehörde eingesetzten Projektgruppe zügig weiterentwickelt.
Wir danken allen Beteiligten für das auf Ausgleich und pädagogische Innovation ausgerichtete Mitwirken und für die Neuorientierung.
Die Koalition hat in dieser wichtigen Frage einvernehmlich gehandelt. Ich darf vielleicht auch persönlich anmerken, dass die Diskussionen nie strittig waren, sondern konstruktiv geführt und mit hohem Inhaltswert gefüllt. Die Behördenleitung hat in vorbildlicher Weise Politik, Bildungsträger, Lehrkräfte, Eltern und, soweit es ging, auch Schüler eingebunden. Wir wünschen allen Beteiligten bei der Umsetzung dieses wichtigen Punktes gutes Gelingen. – Vielen Dank.