Protocol of the Session on July 8, 2009

Dann will ich Ihnen nur noch kurz mitteilen, dass es auf der einen Seite andere Gesichter zum Geschäftsordnungsverfahren bei der Kurzintervention gegeben hat. Wir hatten einen Setzpunkt. Wir hatten eine Zehn-Minuten-Debatte. In einer Zehn-Minuten-Debatte ist eine Kurzintervention zulässig. Deshalb bitte ich alle, auch die, die ein bisschen schepp geguckt haben, das neu einzuordnen, dass es stimmt. Ich habe mich im Übrigen auch hier mit bewährten Kräften am Präsidiumstisch abgestimmt. Kollege Gerling kennt diese Vorgänge noch aus früheren Jahrzehnten.

(Heiterkeit)

Deshalb gehe ich davon aus, dass es keinen Widerspruch gibt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Große Anfrage des Abg. Dr. Jürgens (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Fraktion betreffend Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes und des Hessischen Behindertengleichstellungsgesetzes – Drucks. 18/620 zu Drucks. 18/36 –

mit dem Tagesordnungspunkt 26:

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Umsetzung des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – Drucks. 18/334 –

und dem Tagesordnungspunkt 42:

Dringlicher Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP betreffend UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung – Drucks. 18/806 –

Die erste Wortmeldung ist von Herrn Kollegen Dr. Jürgens. Die Redezeit beträgt siebeneinhalb Minuten.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Debatte über eine Große Anfrage ist immer Anlass, Erreichtes zu würdigen, Defizite aufzuzeigen und Perspektiven zu besprechen. Um die Bewertung vorwegzunehmen: In der Behindertenpolitik der Landesregierung, um die es in der Debatte geht, gibt es mehr Schatten als Licht. Manches geht durchaus voran. Das sehen auch wir. Vieles wurde versäumt. Einige Ideen der Landesregierung haben gefloppt. In einem entscheidenden Punkt, dem gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern, versagt die Landesregierung komplett.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Fangen wir mit den positiven Beispielen an. Zu Recht erwähnen Sie in der Antwort auf unsere Große Anfrage an verschiedenen Stellen den Leitfaden „Unbehinderte Mobilität“, der in Hessen zur Gestaltung öffentlicher Verkehrsräume entwickelt worden ist.

Ohne jeden Zweifel ist mit diesem Leitfaden ein großer Wurf gelungen. Die Beispiele zur Umsetzung von Barrierefreiheit in diesem Leitfaden sind durchaus gelungen. Das freut mich nicht zuletzt deswegen, weil viele davon in Kassel in der Praxis erprobt worden sind.Die Anwendung in der Praxis dürfte allerdings noch ein bisschen zulegen. Aber da sind wir grundsätzlich auf einem guten Weg.

Sie haben uns auch ein weiteres positives Beispiel, eine eindrucksvolle Liste von Gebäuden, vorgelegt, bei denen seit Inkrafttreten des hessischen Gesetzes Maßnahmen der Barrierefreiheit durchgeführt wurden. Das ist natürlich gut und richtig so. Es war Ziel der Gesetzgebung, dass sich dort etwas tut.

Wenn man aber einmal die Wirklichkeit betrachtet, stellt man fest,sie ist in einigen Bereichen etwas nüchterner.Ich darf Ihnen vorlesen, was mir ein Betroffener über die von Ihnen erwähnte barrierefreie Umgestaltung von Aula und Hauptgebäude der Universität in Gießen geschrieben hat:

Der Haupteingang ist für Rollstuhlfahrer nicht nutzbar. Sie werden mit einem Piktogramm um das Gebäude, das nicht klein ist, herum geschickt. Auf der Rückseite befindet sich eine Rampe, die zu einer Hintertür führt. Da die Tür nicht kraftbetätigt ist, stellt sie für Rollstuhlfahrer mit geringer Armkraft schon ein großes Hindernis dar. Hat man die Tür überwunden, steht man in einem Vorraum, in dem unter anderem schmutzige Wäsche gelagert ist. Es gibt keine Wegweisung, wo man was findet, insbesondere nicht zum Aufzug, der sich um mehrere Ecken herum versteckt in einer Nische in der Nähe des Haupteingangs befindet. Wichtige Hörsäle usw., in denen auch öffentliche Veranstaltungen stattfinden, sind für Rollstuhlfahrer nicht erreichbar, da sie sich auf Zwischengeschossen befinden, die nur über zusätzliche Treppen erreichbar sind.

Das ist zweifelsfrei keine Barrierefreiheit.Selbstverständlich ist eine Rampe zum Hintereingang besser als Stufen am Haupteingang. Aber barrierefrei ist das noch lange nicht. Es gibt also noch einiges zu tun. Der Fortschritt ist eben auch hier manchmal eine Schnecke.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein weiteres durchaus positives Beispiel ist aus meiner Sicht die gelungene Integration behinderter Kinder im Vorschulbereich,insbesondere in Kindertagesstätten.Das Modellprojekt QUINT hat hier noch einen Schub gebracht. Hier werden die gleichberechtigte Teilhabe umgesetzt und die Basis für ein möglichst selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen gelegt. Das ist durchaus positiv und anerkennenswert.

Allerdings komme ich jetzt zu den Versäumnissen. In der Antwort auf die erste Frage unserer Großen Anfrage verweisen Sie auf die vom Land Hessen unterstützte Arbeit des Hessischen Netzwerks behinderter Frauen und des Hessischen Koordinationsbüros für behinderte Frauen, beide bei uns in Kassel angesiedelt. Beide wurden allerdings – darauf weise ich hin – bereits zu rot-grünen Zeiten

gegründet:1992 bzw.1993.Seit Beginn der Regierungszeit Koch haben Sie das zwar fortgesetzt, aber auch nichts Neues an eigenen Ideen und eigenen Initiativen gestartet. Sie verweisen nur auf die natürlich sehr engagierte Arbeit der Frauen dort. Gefragt wären aber natürlich auch eigene Aktivitäten des Landes.

Behinderte Frauen sind bei allen Rehabilitationsmaßnahmen deutlich unterrepräsentiert.Behinderte Eltern erhalten selten die Unterstützung, die sie brauchen. Sexuelle Übergriffe in Einrichtungen der Behindertenhilfe sind durchaus keine Seltenheit. Es gibt also durchaus Themen, derer man sich annehmen könnte. Sie haben aber keinen Plan, wie der doppelten Benachteiligung behinderter Frauen begegnet werden kann. Das ist aus dieser Antwort deutlich abzulesen.

Das Gleiche gilt im Übrigen für die Antwort auf die Frage nach Maßnahmen, mit denen Menschen mit Behinderungen der Verbleib in der eigenen Wohnung ermöglicht werden soll.Auch hier verweisen Sie im Wesentlichen auf Aktivitäten des Landeswohlfahrtsverbandes, was richtig ist. Eigene Aktivitäten des Landes sind allerdings bis auf eine Förderung von Umbaumaßnahmen kaum festzustellen.

Ein weiterer Flop, auf den ich an dieser Stelle hinweisen möchte,der aber von Anfang an absehbar war,sind die sogenannten Zielvereinbarungen zwischen Behindertenorganisationen und kommunalen Körperschaften zur Herstellung von Barrierefreiheit.Sie teilen uns mit,dass in der Zeit seit Inkrafttreten des Gesetzes gerade einmal vier solcher Zielvereinbarungen zustande gekommen sind. Schon diese geringe Zahl macht deutlich: Die Zielvereinbarungen können klare gesetzliche Vorgaben für die Kommunen, wie wir sie immer eingefordert haben, in keiner Weise ersetzen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich komme zu einem wirklichen Skandal, den ich ansprechen möchte, zur Situation der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. In Ihrer Antwort auf die Frage nach der Ausbildungssituation bringen Sie lange und durchaus zutreffende Ausführungen zum vorschulischen Bereich und bringen auch sehr lange Ausführungen zu den Universitäten. Aber auch behinderte Kinder in Hessen kommen nicht direkt vom Vorschulbereich in die Universität, sondern sie müssen zwischendurch zur Schule gehen. Dort ist es so, dass Hessen mit dem gemeinsamen Unterricht nach wie vor deutlich hinten liegt. Es gibt Länder wie Berlin und Bremen, wo inzwischen über 30 %, teilweise sogar die Hälfte der behinderten Kinder im gemeinsamen Unterricht sind. In Hessen sind es unter 10 %, und das ist aus unserer Sicht erbärmlich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,der SPD und der LINKEN)

Deswegen setzen viele Familien mit behinderten Kindern zu Recht große Hoffnungen auf die neue UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, zu der wir auch einen Antrag eingebracht haben. Diese schreibt zur Umsetzung des Rechts auf Bildung vor, „dass... Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden“ und dass „Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an... Schulen haben“.

Das deutsche Sonderschulsystem ist hiermit nicht zu vereinbaren. Die hessische Praxis, behinderte Kinder in der Regel auf Förderschulen zu verweisen, steht ebenfalls im Widerspruch zu diesen Regeln der UN-Konvention.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,der SPD und der LINKEN)

Deshalb fordern wir in unserem Antrag zur Umsetzung der UN-Konvention die Landesregierung unter anderem auf – ich zitiere das hier bewusst –,

sicherzustellen, dass das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderung, z. B. bei der inklusiven Beschulung, bei der Umsetzung des Übereinkommens im Vordergrund steht.

Meine Herren von der FDP, wahrscheinlich kommt Ihnen die Formulierung bekannt vor; denn sie ist wörtlich übernommen aus einem Antrag der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag. Ich hoffe, dass Sie – das werden wir gleich hören – im Deutschen Bundestag nicht Dinge versprechen, die Sie dann, wenn Sie an der Regierung beteiligt sind, nicht halten wollen. Ihr eigener Antrag zur UNKonvention lässt mich da allerdings einiges befürchten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Herr Dr. Jürgens, Sie müssen zum Schluss kommen.

Die UN-Konvention verpflichtet die Staaten ausdrücklich, behinderte Menschen bei der Umsetzung von Anfang an zu beteiligen. Sie wollen sie erst später beteiligen. Das wird sicherlich ein Gegenstand der Diskussion im Ausschuss sein.

Ein letzter Satz. Immerhin kann man aus den beiden Anträgen feststellen, dass die UN-Konvention grundsätzlich übereinstimmend bewertet wird. Vielleicht gibt es Chancen, dass wir uns im Ausschuss auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,der SPD und der LINKEN)

Herzlichen Dank, Herr Dr. Jürgens. – Das Wort hat Herr Kollege Mick von der FDP-Fraktion.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit zwei Themenkomplexen, zum einen mit der Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage, die dankenswerterweise von Herrn Kollegen Dr. Jürgens und seiner Fraktion gestellt wurde, und zum anderen – sozusagen als Zukunftsthema – mit der Umsetzung der UNKonvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen hier in Hessen.

Herr Dr. Jürgens hat überraschenderweise in vielen Punkten die Landesregierung gelobt. Das Lob muss ich also nicht wiederholen. Wenn wir uns die Antwort anschauen, können wir durchaus sagen, dass wir uns – –

(Zuruf des Abg. Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Genau. Wenn Sie einmal für den Weihrauch zuständig sind, dann ist das auch etwas Neues.

Wir sind in Hessen durchaus auf einem hohen Niveau. Das kann man festhalten. Es gibt in der Tat viel Licht. Es ist zugegebenermaßen natürlich auch ein bisschen Schatten dabei. Ich denke an Einzelfälle. Man hört aus den Kommunen teilweise immer noch, dass gesetzliche Vorgaben nicht umgesetzt werden. Hier sind aber in erster Linie unsere Kolleginnen und Kollegen in den Gemeindeparlamenten gefragt, die gesetzlichen Grundlagen, die bereits bestehen, umzusetzen und vor Ort ein Auge darauf zu haben, dass das bei kommunalen Bauvorhaben umgesetzt wird.

(Beifall bei der FDP)

Der Leitfaden zur unbehinderten Mobilität ist schon angesprochen worden. Ich denke, hier haben wir einen großen Fortschritt erzielen können. Der Leitfaden ist aus dem Jahr 2007. Er ist insofern relativ frisch. Das ist wieder ein Punkt, wo unsere Kolleginnen und Kollegen in den Kommunalvertretungen aufgefordert sind, auf diesen Leitfaden aufmerksam zu machen. Ich habe das Gefühl, die Bestimmungen sind noch nicht überall angekommen. Insofern haben wir kein Gesetzgebungsdefizit, sondern eher ein Umsetzungsdefizit in diesem Themenfeld.

Der weitaus spannendere Bereich ist die UN-Konvention. Hier liegen zwei konkurrierende Anträge vor. Im Dezember 2008 hat der Deutsche Bundestag dem Ratifizierungsgesetz zur UN-Behindertenrechtskonvention zugestimmt.Ich bin schon der Meinung,dass diese Konvention einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik darstellt. Das kann man mit Fug und Recht sagen. Statt nämlich nur einer möglichst guten Förderung in Spezialeinrichtungen steht jetzt die aktive Teilhabe der Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben im Vordergrund. Autonomie, Teilhabe, Inklusion, Selbstbestimmung, unabhängige Lebensführung und Würdigung der menschlichen Vielfalt sind die Leitgedanken der Konvention. Das sind Leitgedanken, die wir Liberale unterstützen. Wir haben dem Ratifizierungsgesetz im Deutschen Bundestag ja zugestimmt. Das trifft ausdrücklich unsere Zustimmung, weil es unserem liberalen Gesellschaftsbild entspricht.

(Beifall bei der FDP)

Es ist nämlich wichtig, dass Behinderung als Normalität des Lebens begriffen wird. Das ist ein ganz wichtiger Fortschritt, ein ganz wichtiger Punkt. Nicht die Menschen mit Behinderungen müssen sich der Lebenswelt anpassen, sondern die Lebenswelt muss so gestaltet werden, dass alle Menschen, ganz gleich ob mit oder ohne Behinderung, an ihr teilhaben können. Das ist ein Ziel, das wir alle unterschreiben können.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)