Herr Irmer, ich bin sehr dankbar, dass Sie sich einmal in einer Rede auch mit bildungspolitischen Erkenntnissen auseinandergesetzt haben.
Aber Sie erwähnen wissenschaftliche Erkenntnisse und können dann nicht erklären, warum Sie in diesem Land G 8 eingeführt haben, obwohl der Nachmittagsunterricht so belastend ist. Hier geht es nicht um ein Modell von Ganztagsschule, in dem Unterricht und Freizeit und Förderung sich abwechseln, sondern hier geht es darum, dass Unterricht in den Nachmittag verlegt werden muss. Da bleiben Sie die Antwort schuldig, wo da Ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse waren und warum Sie sie ignoriert haben.
Ich habe mich noch einmal gemeldet, weil ich glaube, dass man das so nicht stehen lassen kann: Wir haben nie von Zwangsganztagsschulen gesprochen. Auch wir haben davon gesprochen, dass die Schulen ihren Weg wählen sollen. Aber die Schulen müssen auch die Möglichkeit haben, Herr Irmer. Wenn in 13 Jahren 20 neue Ganztagsschulen, die wirklich ganztägig für alle Kinder arbeiten, hinzugekommen sind, dann entspricht das nicht dem tatsächlichen Bedarf. Dann ist das hier etwas in diesem Programm, was dringend aufgestockt werden muss, damit man diese Bedürfnisse der Schulen auch erfüllen kann.
Wir haben auch nie davon gesprochen, dass Ganztagsschulen die Patentlösung sind. Sie lesen ja immer so gern unsere Papiere. Wenn Sie das „Haus der Bildung“ lesen, werden Sie sehen, dass wir für gute Bildung eine ganze Menge von Vorschlägen haben, was sich verändern kann. Ganztagsschule ist nur einer davon. Das ist kein Allheilmittel, aber es ist ein Baustein – genau wie die Selbstverantwortung von Schule, die Sie immer ganz groß schreiben, auch ein Baustein ist. In diesem Zusammenhang würde ich das gern auch einmal relativiert sehen. Denn so, wie Sie es dargestellt haben, entspricht das nicht dem, was wir an politischen Konzepten nach außen gegeben haben.
Herr Präsident! Frau Habermann, ich nehme erfreut zur Kenntnis, dass Sie sich offensichtlich zumindest von dem Eindruck, den Sie bewusst erwecken, verabschiedet haben, Sie wollten einen flächendeckenden Ausbau von Ganztagsschulen in Hessen.
Das nehme ich für das Protokoll auf und bin dankbar für diese Klarstellung Ihrerseits. Dann kann man das auch gelegentlich einmal medial anderweitig darstellen. Das ist das eine.
Das Zweite ist Folgendes: Sie haben das Thema G 8 angesprochen. Das ist ohnehin merkwürdig. Auf der einen Seite werfen Sie uns vor, wir hätten G 8 eingeführt, und das habe katastrophale Auswirkungen auf den Vereinssport, auf das Freizeitverhalten usw. Ich höre gerade als Zwischenruf, das sei auch so. Natürlich ist es so, dass sie an einem oder zwei Nachmittagen dann in der Regel auch nachmittags Unterricht haben. Das bleibt gar nicht aus. Das ist so.
Aber dieselben, die uns das vorwerfen, plädieren auf der anderen Ebene für einen – sagen wir das einmal sehr zurückhaltend – sehr, sehr großen Ausbau flächendeckender Form von Ganztagsschulen. Wenn Sie Ganztagsschule ernst nehmen, dann haben Sie logischerweise nicht nur einen oder zwei Nachmittage, sondern dann haben Sie drei oder vier oder in gebundener Form alle fünf Nachmittage an der Schule zu verbringen. Kategorischer Imperativ. Und das ist der Unterschied.
Das ist das Problem, das die Vereine dann bekommen. Aber mit G 8 bekommen sie das mit Sicherheit nicht.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Eine unserer Mitarbeiterinnen zieht gerade aus Rheinland-Pfalz nach Wiesbaden. Sie hat eine sechsjährige Tochter, die diesen Sommer schulpflichtig wird. In Hessen besteht keine freie Grundschulwahl. Schülerinnen und Schüler müssen die Grundschule in ihrem zugeordneten Schulbezirk besuchen. Die Grundschule für das Kind unserer Mitarbeiterin ist keine der 20 Grundschulen in Hessen, die gebunden oder offen ganztägig arbeiten. An der Grundschule existiert zwar eine Betreuungsinitiative von Eltern, deren Warteliste ist aber so lang, dass mindestens in den nächsten zwölf Monaten kein Platz für die Tochter unserer Mitarbeiterin zur Verfügung stehen wird, den sie dringend benötigt.
Alternativ bietet die Stadt Wiesbaden insgesamt 80 Plätze in einer sogenannten Betreuenden Grundschule. Ein Platz dort kostet mit Mittagessen über 200 €. Es sind insgesamt 80 Plätze für über 300 Schülerinnen und Schüler. Ich denke, Wiesbaden ist vielleicht sogar noch relativ gut ausgestattet. Das sieht auf dem flachen Land sicherlich noch viel schlechter aus.
Da fühlt man sich doch geradezu verhöhnt, wenn Sie, Frau Henzler, in der Beantwortung der Großen Anfrage betonen, Sie hätten sich einen „flächendeckenden, bedarfsgerechten Ausbau von schulischen Ganztagsangeboten sowie deren qualitative Weiterentwicklung zum Ziel gesetzt“. Zum Ziel kann man sich alles Mögliche setzen. Aber bedarfsgerecht ist doch etwas anderes.
Letztes Jahr konnte dem von der Bertelsmann Stiftung vorgestellten „Länderreport frühkindliche Bildungssysteme 2011“ entnommen werden, dass der Anteil an Grundschulkindern, die in Berlin eine Ganztagsschule bzw. eine Schule mit entsprechenden Ganztagsangeboten
Sie wissen, unsere Partei ist bei Weitem nicht der größte Sympathisant der Bertelsmann Stiftung. Aber wenn selbst Jörg Dräger, das für Bildung zuständige Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung, vor einigen Wochen öffentlich im Landtagsrestaurant einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer echten Ganztagsschule fordert, dann sollte Ihnen das Anstoß genug sein, dies auch in Hessen umzusetzen.
Stattdessen sind bisher nur 10 % der ganztägig arbeitenden Schulen reale Ganztagsschulen – ein Tropfen auf den heißen Stein und absolut unzureichend. Auf wichtige Fragen der Großen Anfrage wissen Sie wieder einmal keine Antwort. Auf Frage 11 antworten Sie z. B.:
Aussagen zum Investitionsbedarf der Kommunen zur Unterhaltung bzw. zum baulichen Ausbau des Schulangebots in Ganztagsform sind dem Hessischen Kultusministerium mangels Information nicht möglich.
Der bauliche Ausbau des Schulangebots obliegt den Schulträgern bzw. den Kommunen, nicht dem Land Hessen. Für diese Aufgaben erhalten die Kommunen Mittel aus dem Kommunalen Finanzausgleich, über die sie vor Ort bedarfsgerecht entscheiden können.
Frau Ministerin, hier tut sich aber ein Problem auf. Denn die Schulträger, die auch in der Vergangenheit schon in vielen Fällen mit einer Haushaltsunterdeckung arbeiten mussten, können durch die Reduzierung der Zuweisung für die Kreise und kreisfreien Städte im laufenden Haushaltsjahr und den folgenden Haushaltsjahren durch die Einsparungen infolge der Schuldenbremse ihre finanziellen Probleme nicht mehr lösen. Da sie aber für die Beantragung neuer Ganztagsschulen auch die nötigen Komplementärmittel bereitstellen müssen, wird ihnen nicht in dem Umfang daran gelegen sein, wie es notwendig wäre.
Im Sinne des Föderalismusgedankens sollen die Kultusaufgaben in der Zuständigkeit der Länder bleiben. Das ist jedenfalls Ihre Sicht. Das bedeutet aber, dass das Land den Schulträgern das dringend benötigte Geld für die Ausweitung von Ganztagsschulen, des Ganztagsbetriebs insbesondere bei den Grundschulen, zur Verfügung stellen müsste.
Denn das Kultusministerium weist nur dann neue Ganztagsschulen aus, wenn diese von den Kreisen beantragt werden, was aber, wie gesagt, zunehmend seltener geschieht, weil die Schulträger die Kosten nicht mehr tragen können – ein Teufelskreis, in den wir da geraten sind. Hier darf es nicht heißen: Reduzierung der Kosten im Kultusetat durch Finanzminister Schäfer und Kultusministerin Henzler, sondern: massive Aufstockung der Mittel, damit viele Schulen den Personalzuschlag bekommen können, der ihnen nach der neuen Ganztagsschulrichtlinie und auch nach früheren Bestimmungen zusteht. Für die ganztätig arbeitenden Schulen, die die Qualitätsstandards erreichen, würde das einen Zuschlag von rund 20 % auf die vorhandenen Stellen bedeuten. Hinzu kommt, dass das Land die Zuweisungen an die Kreise um ca. 140 Millionen € gekürzt hat und diese dann natürlich bei notwendigen pädagogischen Erweiterungsbaumaßnahmen fehlen. Auch
sonst scheint das Kultusministerium an vielen Stellen nicht besonders viel zu sagen zu haben, wie man in der Großen Anfrage sieht.
Aussagen sind Ihnen auch da nicht möglich, wo selbst Grundschüler rechnerische Aussagen treffen könnten. Sie behaupten, die durch den Schülerrückgang frei werdenden Ressourcen bis 2015 bzw. 2020 seien zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar. Das ist schlichtweg falsch. Die Kinder der nächsten sechs Jahrgänge sind doch bereits geboren. Daher muss auch der Bedarf nicht durch eine Zauberkugel wahrgesagt werden, Frau Ministerin. Sie wissen um die Anzahl der Kinder. Da kann es doch für eine Kultusministerin nicht so schwierig sein, mit einfachen mathematischen Mitteln die Einsparung zu errechnen.
Auf weitere Punkte werden wir noch im Kulturpolitischen Ausschuss eingehen. Alles in allem kann ich nur sagen: Ihre bisherigen Bemühungen, Ganztagsschulen wie auch Ganztagsangebote zu schaffen, sind absolut unzureichend. Damit können Sie sich wahrlich nicht profilieren. Das zeigt auch diese Große Anfrage. – Ich bedanke mich.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Als ich die Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage der Kolleginnen und Kollegen der SPD gesehen habe, dachte ich, das wird keine spannende Debatte, weil in diesen Antworten nun wirklich nicht viel steht. Aber der Kollege Irmer von der CDU hat die Debatte doch ganz spannend gemacht, weil er zum zweiten Mal in dieser Plenarwoche aus seinem bildungspolitischen Herzen keine Mördergrube gemacht hat.
Nachdem wir in dieser Woche schon einmal lernen durften, was Herr Irmer von Inklusion hält, nämlich nichts,
durften wir jetzt lernen, dass Herr Irmer immer noch mit der Idee der Ganztagsschule völlig fremdelt.
Herr Irmer, Sie haben hier sehr viele Daten aus den Neunzigerjahren zitiert, und Sie sind gedanklich immer noch in den Neunzigerjahren der hessischen CDU.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Jürgen Irmer (CDU): Auch das ist falsch! Sie sagen wieder einmal bewusst die Unwahrheit! Das ist doch falsch, was Sie sagen!)
Jetzt sagt er, ich sage hier die Unwahrheit. Sie haben doch hier zu einer langen Rede angehoben, dass Sie der
Meinung sind, dass Ganztagsschulen aus pädagogischen Gründen durchaus zweifelhaft seien. Sie haben zu einer langen Rede angehoben, dass dadurch Schülerinnen und Schüler ihrer Kindheit und Jugend beraubt würden. Das sind alles die Debatten der Neunzigerjahre der HessenCDU. Das ist aber überhaupt nicht die Wirklichkeit der Eltern und auch nicht der Schülerinnen und Schüler im Jahr 2012.
Herr Kollege Irmer, es ist schon amüsant, wenn Sie sich auf das Ganztagsschulprogramm der rot-grünen Bundesregierung beziehen. Es war die CDU, die dieses Ganztagsschulprogramm bekämpft hat. Es war die Hessische Landesregierung, die sich lange sogar gegen die Umsetzung in Hessen gesträubt hat. Dass Sie jetzt ausgerechnet auf dieses Ganztagsschulprogramm Bezug nehmen, ist schon einigermaßen verwunderlich.