Dann sagen Sie, die Debatte sollte nicht durch gegenseitige Schuldvorwürfe geprägt sein. Herr Kollege Lennert, was haben Sie denn heute hier abgeliefert?
Sie haben hier vorne gestanden und gesagt, Berlin sei schuld, dass die Verfassung in Frankreich gescheitert ist. Also bitte. Der politische Sachverstand in dieser Frage liegt woanders. Es geht nicht darum, dass Berlin daran schuld ist. Es geht darum, dass in Frankreich das Ganze innenpolitisch benutzt worden ist.
Da würde ich an Ihrer Stelle ganz ruhig sein. Denn genau das Gleiche betreiben Sie hier in Hessen gerade.
Dann geht es weiter. Sie fordern, dass europäische Regelungen in Zukunft eins zu eins umgesetzt werden. Da frage ich mich, ob Sie überhaupt wissen, was Sie da schreiben. Sonst bestehen Sie immer darauf, dass Sie mitreden dürfen und dass Sie Einspruchsrechte haben. Und jetzt steht so etwas in Ihrem Antrag.Aber es wird klar, dass Sie die Partei des Hü und Hott sind, was Europa betrifft.
Über das Thema Verbraucherschutz in Europa haben wir schon gesprochen. Natürlich stellen Sie wieder die wirtschaftlichen Interessen in den Vordergrund. So kennen wir Sie. Sie behaupten, das würde zu pauschalem Unmut in der Bevölkerung führen. Es führt auch zu Unmut in der Bevölkerung, wenn Verbraucherrechte überhaupt nicht mehr geschützt werden sollen.
Dann stellen Sie in einem Satz folgende Forderung auf, die ich sehr wichtig finde: Der Landtag fordert die verantwortlichen Politiker auf, für unpopuläre nationale Maßnahmen nicht Europa verantwortlich zu machen,denn die europäische Gesetzgebung kann im Vorfeld von den Einzelstaaten effektiv beeinflusst werden. – Aber ich würde mir wünschen, dass Sie sich das im Hessischen Landtag auch einmal hinter die Ohren schreiben und dass Sie nicht ständig schlechtreden, was in Europa passiert.
Natürlich muss das Thema Türkei vorkommen. Ich denke, es ist „weltbedeutend“, dass wir das heute hier wieder erörtern – mit völlig „neuen“ Aspekten, die wir hier noch nie gehört haben.
Dann gibt es einen einzigen Satz, bei dem ich denke, Ja, so ist es: Der Landtag spricht sich dafür aus, einen Weg zu suchen, die im Verfassungsvertrag enthaltenen unstrittigen institutionellen Regelungen nach Möglichkeit einzeln in Kraft zu setzen und damit der notwendigen Arbeitsfähigkeit der bereits seit 1. Mai 2004 stark erweiterten Union Rechnung zu tragen.
Dazu kann ich nur sagen: Es scheint sich ein Funke Realismus bei Ihnen eingeschlichen zu haben, dass wir näm
lich wirklich eine verdammt schwierige Situation haben und überlegen müssen, wie es in Europa weitergeht.Aber der letzte Satz macht diesen Antrag wieder unzustimmbar, denn er lautet: Gegebenenfalls muss der Verfassungsvertrag neu verhandelt werden. – Da frage ich mich: Wo sind Sie denn? Das kann doch nicht wahr sein.Wir haben es im Hessischen Landtag nicht geschafft, uns auf eine kleine Verfassungsänderung zu einigen. Nachdem man es geschafft hat, einen Verfassungsvertrag unter Mitarbeit von 25 Staaten zu erarbeiten, stellen Sie sich hierhin und fordern, er müsse neu verhandelt werden. Wann wollen Sie Europa eigentlich handlungsfähig bekommen? Im nächsten Jahrhundert?
Es gibt allerdings wirklich wichtige Fragen zu diskutieren, z. B. die Frage, wie es bei der Integration weitergeht. Die Ablehnung der Referenden war natürlich für alle ein Schlag. Das wird aber nicht dadurch besser, dass man den Verfassungsvertrag schlechtredet, und es wird auch nicht dadurch besser, dass der Hessische Ministerpräsident einen Vergleich zum Untergang der Titanic zieht, das Bild von der Kapelle zeichnet, die an Deck weiterspielt. Auch das kann nicht sein.Wir müssen überlegen, wie es mit Europa weitergeht, ohne gleich das Bild zu stellen, Europa gehe unter. Das wäre nämlich kontraproduktiv.
Zu den Referenden ist zu sagen: Natürlich war es ein Fehler, dass es keinen Plan B gab. Ich kann aber nach wie vor nur sagen: Daniel Cohn-Bendit hatte Recht, der immer gefordert hat, wir hätten die Referenden am gleichen Tag in allen Ländern durchführen sollen. Dann wäre nämlich genau das nicht passiert, was die hessische CDU immer macht: Europa je nachdem, wie es in die politische Tagesagenda passt, mal nach rechts, mal nach links, mal nach vorn, mal nach hinten, mal nach „gut“ und mal nach „schlecht“ zu ziehen.
Darin unterscheiden wir GRÜNE uns wirklich von der CDU im Hessischen Landtag.Wir wollen nichts mit Ihrer nörglerischen Grundhaltung zu tun haben.Wir sagen: Europa ist ein hartes Stück Arbeit, aber es wird nicht dadurch besser, das man ständig daran herumnörgelt – je lauter und je mehr, je näher irgendwelche Wahltermine rücken.
Das betrifft z. B. den Punkt, dass der Hessische Ministerpräsident in der „Welt“- am 11. Juni Kanzler Schröder für das Scheitern der Referenden verantwortlich gemacht hat.Es gibt in Europa weiß Gott wirklich wichtige und tief gehende Themen.Die Frage ist natürlich,inwieweit wir sie im Hessischen Landtag beeinflussen können.
Dann kam Ihre glorreiche Presseerklärung nach dem Motto: Bürokratieabbau sofort. – Das war wirklich ein inhaltlich „wertvoller“ Beitrag zum Thema Europa. Sie sind da ein ziemlich kleines Karo gefahren. Das waren Stammtischparolen. Wenn ausgerechnet die Hessische Staatskanzlei von „aufgeblähten Bürokratien“ redet, dann muss man sie doch fragen, wo wirklich eine aufgeblähte Bürokratie zu finden ist.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die blähen erst auf und befördern dann noch!)
Es gibt viel wichtigere Themen: die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik, die Friedenspolitik auf dem Balkan, die großen globalen Herausforderungen und Veränderungen, die die europäische Verfassung mit sich bringt, und die Frage, wie wir überhaupt handlungsfähig sein können. Sie tun aber nichts anderes, als die Myten, die es im Lande gibt, noch zu verstärken und scheinheilig zu sagen, das solle man lassen. Eine echte Lösung haben Sie überhaupt nicht zu bieten. Das, was der Hessische Landtag tun könnte, kommt im CDU-Antrag überhaupt nicht mehr vor. Der „Wirtschaftskurier“ hat im Juni dieses Jahres geschrieben: Die Europapolitik muss ehrlicher werden. – Genau das würde ich mir für die Diskussionen hier im Parlament wünschen.
Der „Wirtschaftskurier“ liefert selbst ein Beispiel dafür, wie hier immer wieder agiert wird.Auf Seite 1 heißt es:
Ein Grund für die fehlende Akzeptanz der EU ist die ständige Überdehnung. Die große Frage, was Europa wohl ist und wo Europa aufhört, hat noch nie jemand beantwortet.
Schlägt man die nächste Seite auf, dann findet man einen Artikel, wo genau diese Frage vom Redakteur beantwortet wird. Er schreibt und titelt:
Die Wirtschaft sieht die EU-Erweiterung überwiegend als Erfolg – Tor zum Millionenmarkt aufgestoßen.
Man sollte wirklich einmal schauen, wie man Europa mit all seinen Licht- und Schattenseiten, die es ohne Zweifel hat, sinnvoll diskutieren kann – auch hier im Hessischen Landtag.
Herr von Hunnius hat die Frage des Informationsflusses angesprochen. Das ist ein Punkt, wo wir ihm zustimmen, wo auch wir es schlecht finden, dass der Antrag von der Mehrheitsfraktion abgelehnt worden ist, weil wir nämlich verstärkt informieren müssen,denn die Bürger wissen viel zu wenig. Aber das, was Sie hier an Informationspolitik praktizieren, kann es wirklich nicht sein. Das tut Europa insgesamt überhaupt keinen Gefallen.
Wenn man sich dann anschaut, dass die Bundesrepublik im Jahre 2007 die Ratspräsidentschaft innehaben wird, dann kann man sich nur wünschen, dass Fischer und Schröder und nicht Merkel und Westerwelle die Präsidentschaft übernehmen, denn das wäre kein guter Tag für Europa.
Zwei Sätze noch. – In diesem Sinne und in diesem Geiste haben wir ursprünglich zwei gemeinsame Anträge beschlossen, die Ihnen heute vorliegen. In diesem Sinne sollte die Landesregierung im Vorgriff auf die Ratifizierung der europäischen Verfassung ihren Beitrag leisten. Wir sollten im Bundestag und in den Länderparlamenten nicht hinter das zurückfallen, was wir beschlossen haben, und uns entsprechend verhalten.
Danke sehr, Frau Kollegin Hölldobler-Heumüller. – Als Nächster hat Herr Staatsminister Riebel das Wort.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Gleich zu Beginn und ohne wenn und aber: Die Hessische Landesregierung steht ohne jede Einschränkung – ich unterstelle: wie der gesamte Hessische Landtag – hinter dem Einigungsprozess, man kann auch sagen, hinter dem Wiedervereinigungsprozess Europas und wünscht, ihn positiv und begünstigend zu begleiten, weil es aus unserer Sicht die einzige Chance ist,die Zukunft in einer globalisierten Welt zu bestreiten.
Jetzt muss ich abweichen von dem, was ich mir einleitend zu sagen vorgenommen habe, auf das antworten, was die Kollegin Hölldobler-Heumüller gesagt hat. Frau Hölldobler-Heumüller, Sie haben mich mit Äußerungen, die aus meiner Sicht an der Grenze des Erträglichen sind, herausgefordert.
Diese Äußerungen bedürfen einer sofortigen Antwort. Um es zusammenzufassen, sage ich gleich am Anfang: Ihre politische Familie in Berlin, in Frankreich und anderswo hat beim Thema Europa versagt.
Ich will Ihnen am Beispiel Frankreich sagen, wo Sie in außergewöhnlicher Weise versagt haben. Die Franzosen feiern heute ihren Nationalfeiertag. Der Anlass für diesen Nationalfeiertag ist für uns in Europa ein wichtiges Datum im Prozess der Europäisierung nach der Aufklärung. Wir können froh sein,dass es die Französische Revolution gegeben hat. Sie hat Europa weitergebracht.
Sie haben Ihren Parteifreund Cohn-Bendit angesprochen. Fragen Sie sich doch liebenswürdigerweise einmal,warum er nicht in Frankreich, sondern in Deutschland als Kandidat für das Europäische Parlament nominiert worden ist. Er wäre von den GRÜNEN in Frankreich nicht mehr aufgestellt worden, weil diese seine Ideen zum Teil für spinnert halten.
Die Kollegen von der Sozialdemokratie haben bei den Ausführungen der Kollegin Hölldobler-Heumüller zum Teil geklatscht.Wer ist denn in Frankreich aus rein innerparteilichen Gründen von Saal zu Saal, von Stadt zu Stadt gezogen und hat gegen den Verfassungsvertrag Stimmung gemacht? Das war Ihr Sozialistenfreund Fabius.