Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! „Europa, das ist der Boden, auf dem die Menschen sich in einem ständigen Kampf mit sich selbst befinden.“ Das hat Henrik Brugmans gesagt – nicht der Landesdirektor Brückmann, Frau Vizepräsidentin, sondern Henrik Brugmans, der am Haager Kongress 1948 teilgenommen hat, der spätere Rektor des Europakollegs in Brügge. Diese weise Erkenntnis ist noch heute richtig. Sie ist ins
besondere dann richtig, wenn wir sehen, in welcher Situation wir uns heute befinden, nachdem in zwei Ländern, in Frankreich und in den Niederlanden, die Ratifizierung des europäischen Verfassungsvertrags gescheitert ist. Nicht verdrängen wollen wir allerdings, dass die Ratifizierung in Ländern mit insgesamt 220 Millionen Einwohnern geklappt hat, und das ist nicht gerade gering zu achten.
Immerhin,die Diskussion ist seitdem in Gang gekommen. Das ist eine Diskussion, in der es einen kumulativen Prozess vom Idealweg des europäischen Gedankens weg gibt. Jeder gefällt sich,auf Europa zu schimpfen,und insgesamt findet man die ganze Veranstaltung nicht mehr besonders attraktiv.
Aber diese Situation, in der Europa sich jetzt befindet, ist eine Chance für Reflexion und für die Neujustierung von Wegen und Zielen. Ich möchte das in zehn Thesen zusammenfassen.
Die erste These: Europa wird nicht ernst genommen, wenn wir selbst Europa nicht ernst nehmen. Ich will ein ganz einfaches Beispiel dafür bringen. Der Tagesordnungspunkt, der heute behandelt wird, geht auf einen Antrag der SPD-Fraktion aus dem November 2004 zurück. Wir haben acht Monate darum gekämpft,ein einziges Mal hier sprechen zu dürfen. Wir haben so mächtige Themen wie die Diätenerhöhung und anderes mehr behandelt. Aber Europa,das unsere gemeinsame Zukunft ist,kommt so gut wie gar nicht vor.
(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) und Petra Fuhrmann (SPD): Tierische Nebenprodukte-Beseitigungsgesetz!)
Wenn wir Europa nicht ernst nehmen, dann dürfen wir uns nicht wundern,dass die Bevölkerung es auch nicht tut. Ändern wir das.
Zweite These. Die Gegner des Verfassungsvertrages wollten vieles, was im Text steht, und sie haben mit ihrer Ablehnung genau das verhindert, was sie eigentlich wollten, z. B. mehr Transparenz in Entscheidungsverfahren, bessere und mehr Mehrheitsentscheidungen im Rat, doppelte Mehrheit, mehr parlamentarische Mitwirkung und nicht zuletzt Bürgerrechte. Durch die Ablehnung des Vertrags haben wir das Ziel verfehlt, dass die Grundrechtecharta europäisches Recht wird. Sie ist es bisher nicht geworden.
Das bedeutet, die Menschen wussten im Wesentlichen nicht, worum es geht. Es gibt Befragungen dazu. Unsere Konsequenz daraus muss lauten: Werfen wir die Verfassung keinesfalls über Bord; denn wenn wir sie einmal aufschnüren, werden wir kaum wieder diesen Kompromiss hinbekommen. Machen wir sie bekannt, und verteidigen wir sie.
Dritte These: Europa darf nicht Fahrt aufnehmen, wenn die Richtung nicht definiert ist. Ich habe immer wieder das Beispiel gebracht, dass Europa gewachsen ist wie ein Fettfleck. Das soll nicht negativ sein, aber es war eben nicht geplant. Europa hat sich ausgebreitet und ausge
breitet. Der Weg war über lange Jahre hinweg das Ziel. Wir hatten die Befürchtung, wenn wir lange über das Ziel sprechen, dann springt der oder der noch ab. Das kann heutzutage nicht mehr gelten. Wir müssen eine offene Diskussion in die Wege leiten, einen breiten Dialog mit der Bevölkerung darüber führen, wohin Europa gehen soll, d. h. wie eng wir zusammenarbeiten wollen und wie weit Europa ausgedehnt sein soll. Das sind die beiden Grundfragen, die zu diskutieren sind.
Vierte These:Vertiefen geht vor Erweitern. Das klingt relativ banal. Aber wären wir dieser Feststellung gefolgt, dann hätte z. B. die Entscheidung, Rumänien und Bulgarien aufzunehmen, schon nicht mehr getroffen werden können. Dann hätte man sich auch überlegt, ob man mit der Türkei schon Verhandlungen beginnt. Denn diese beiden Entscheidungen widersprechen der Vertiefung der europäischen Integration.
Jacques Delors hat im Jahr 2000 gesagt:Das Dilemma zwischen Erweiterung und Vertiefung ist ganz real. – Seither ist dieses Dilemma immer noch vorhanden. Wir haben es bisher noch nicht lösen können.Aber es muss für uns eine Aufforderung sein, uns zur Vertiefung zu bekennen, die Vertiefung zu definieren und nur solche Mitglieder mitzunehmen, die bereit sind, auf dem Weg der Vertiefung der Europäischen Union mitzumarschieren.
Fünfte These.Das Europa der Technokraten ist nicht sexy. Ich will einfach einmal verlesen, worum es sich bei Europa dreht. Wir sprechen hier von einem Friedenswerk. Herr Kollege Dr. Lennert hat mit Recht die Europäische Union das größte Friedenswerk der jüngsten Geschichte genannt.
Aber worum geht es? Da ist z. B. die Richtlinie 2005/11/EG der Kommission vom 16. Februar 2005 zur Änderung der Richtlinie 92/23/EWG des Rates über Reifen von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern und über ihre Montage im Hinblick auf ihre Anpassung an den technischen Fortschritt. Wenn wir so etwas verabschieden und diskutieren, dann dürfen wir uns nicht wundern, dass die Leute nicht erkennen, was das Wesen der europäischen Integration ist, sondern dass sie sich an solchen Unsinnigkeiten aufhalten.
Wenn ich sehe, dass im Ernst überlegt wird, eine Richtlinie zu erlassen, die zum Inhalt haben soll, dass Unternehmen gezwungen werden,Werbeaussagen gesundheitlicher Art in 20 Sprachen der Europäischen Union zu übersetzen, diese bei einem zentralen Amt einzureichen haben und erst nach Genehmigung zu verwenden,
Ich gebe Minister Riebel ausdrücklich Recht, wenn er die berühmte Richtlinie zum Schutz der Arbeiter vor Sonneneinstrahlung kritisiert. Das kann nicht Aufgabe der
Europäischen Union sein. Ich glaube, wir helfen der Europäischen Union nur, wenn wir diesen Blödsinn kappen, wenn wir sagen: Macht das nicht, lasst es einfach weg, und einigt Europa.
Lasst uns lieber keine Halbheiten machen wie den Stabilitätspakt, der verwässert worden ist, sondern lasst uns lieber Dinge klar entscheiden und diese konsequent durchziehen, als uns mit diesen unsinnigen Einzelheiten aufzuhalten.
Zu den Dingen, die wir konsequent durchziehen müssen, gehört die Schnittstelle zwischen der Europäischen Union auf der einen Seite und den Mitgliedstaaten bzw. den Bundesländern auf der anderen Seite. Diese Schnittstelle ist trotz aller Bemühungen um Subsidiarität und Kompetenzabgrenzung bisher nicht klar definiert; sonst kämen solche unsinnigen Richtlinien nicht zustande. Das muss definiert werden.
Sechste These. Ein grenzenloses Europa ist weder machbar noch wünschbar,noch ist es für die Europäer angstfrei zu verkraften, nein, es macht den Europäern Angst.
Deshalb komme ich nicht umhin, über den Beitritt der Türkei zu sprechen. Ich weiß, dass die Beitrittsverhandlungen 10 bis 15 Jahre laufen werden, wenn sie beginnen. Aber ich weiß auch, dass von vornherein jeder davon ausgeht, wie bei den meisten Beitrittsverhandlungen – Marokko ausgeklammert, der Beitrittsantrag wurde einmal abgelehnt –, irgendwann kommt jeder Antragsteller in die Europäische Union hinein. Das darf hier so nicht sein.
Die Europäische Union ist auch eine Veranstaltung zur Besserstellung anderer Länder und Völker – aber nicht nur. Der Beitritt anderer Mitglieder in die Europäische Union muss in jedem Einzelfall im Interesse der Europäischen Union liegen, muss von ihr verkraftbar sein und muss ihre Ziele der inneren Vertiefung und der gemeinsamen Politik unterstützen, oder er muss unterbleiben. Das zu sagen ist überhaupt nicht chauvinistisch, sondern es ist existenznotwendig für die Europäische Union; sonst wird sie eines Tages scheitern.
Siebte These. Europa ist unerlässlich, aber über Wege und Methoden darf gestritten werden. Für mich ist Europa viel zu sakrosankt. Auch im Europaausschuss finde ich es falsch, dass wir nicht inhaltliche Diskussionen führen. Herr Vorsitzender Aloys Lenz, ich finde es gut, dass wir immer versuchen, gemeinsame Resolutionen hinzukriegen. Aber das übertüncht die inhaltlichen Differenzen. Die sind vorhanden und müssen ausgesprochen werden.
Es gibt eine ganz wichtige Differenz, die dazu führt, dass wir den SPD-Antrag nicht unterstützen können: wenn Sie von „marktradikal“ sprechen. Genau das ist der Unterschied. Wir möchten in der Europäischen Union mehr Marktwirtschaft. Die Europäische Union war einmal ein gemeinsamer Markt, und als solcher ist sie entstanden. Wenn ich die Marktwirtschaft in der Europäischen Union nach hinten schiebe, pervertiere ich diese Union. Sie wird dadurch nicht besser.
Frau Präsidentin, ich will so viel sagen, dass die Agrarpolitik zwar dem falschen Ansatz gefolgt ist, wie wir heute wissen,aber wir haben die Weichen neu gestellt.Herr Kollege Heidel, die Agrarpolitik ist inzwischen auf eine mengenunabhängige Förderung umgestellt. Das muss so bleiben, das lassen wir uns auch nicht von Herrn Blair kaputtmachen.
Europa ist ein Gegenstand, über den mehr denn je informiert werden muss. Deshalb bedanke ich mich nochmals für den Vorwurf des Broschürenwahns vonseiten der CDU-Fraktion. Ich unterliege keinem Broschürenwahn. Aber die Landesregierung muss über Europa informieren – zehnte These –, damit wir von dem unheilvollen NizzaProzess wegkommen und darüber hinausgehen können.
Nutzen wir die Chance, die Europäische Union neu zu definieren, unnötige Regelungen zu kappen, mit neuer Entschlossenheit voranzumarschieren und gemeinsam das Europa zu verwirklichen, das wir haben wollen, ein föderalistisches Europa,ein Europa des Friedens.– Herzlichen Dank.