Verstehen Sie? Dann ist die Betroffenheit zwei Tage lang groß, und danach geht es weiter wie immer, weil sich die Zahl der Sitze im Parlament nicht dadurch verändert,dass die Wahlbeteiligung sinkt. Ich finde, wir müssen uns schon einmal überlegen: Woher kommt so etwas? Was bedeutet es denn, wenn in einer Stadt 69 % der Wahlberechtigten sagen: „Ich beteilige mich nicht mehr an der demokratischen Willensbildung“? Das bedeutet, dass es einen Riesenprozentsatz von Menschen gibt, die schlicht von der Politik nichts mehr erwarten.
Jetzt kann man sagen, solange die nicht hingehen, ist alles in Ordnung. Ich finde das nicht in Ordnung. Aber ich fürchte, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir nicht irgendwann anfangen, die Probleme zu lösen, dass diese Verdrossenheit irgendwann in eine Systemablehnung umschlägt, die uns allen nicht gefallen kann und die am Ende der Demokratie in diesem Land gefährlich wird. Ich sage das ausdrücklich und so „pathetisch“, weil dieses Problem, dass man von Vollzeitarbeit nicht mehr leben kann, ein so großes Problem ist, dass es wirklich mehr braucht als billige Parteipolemik.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Michael Boddenberg (CDU): Wo war eigentlich Polemik?)
Wir haben tarifliche Niedriglöhne im Westen. Hilfsarbeiter für leichte Arbeiten, Landwirtschaft, Rheinland-Nassau: 4,68 c; Haushaltshilfe Privathaushalte, NordrheinWestfalen: 5,65 c; Wach- und Kontrollpersonal Bewachungsgewerbe, Schleswig-Holstein: 5,60 c; Bote/Page Hotels und Gaststätten,Saarland:5,95 c;Verkäuferin,ungelernt, Bäckerhandwerk, Saarland: 5,98 c.
Das sind tariflich vereinbarte Löhne. Die Tatsache, dass sich Tarifpartner auf so etwas einlassen, hat den Grund, dass der Organisationsgrad und der Grad der Verankerung in Arbeitgeberverbänden inzwischen so niedrig sind. Deshalb, finde ich, müssen wir dafür sorgen, dass die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände mehr „Macht“ bekommen, sich auf etwas zu einigen, was diejenigen betrifft, die tariflich organisiert sind, und wir dies dann für allgemein verbindlich erklären.
Das unterscheidet uns von dem Antrag der SPD.Wir sind nicht der Meinung, dass es einen flächendeckenden einheitlichen Mindestlohn für ganz Deutschland geben sollte.Wir sind der Meinung, dass es branchen- und regionalspezifische Mindestlöhne geben muss, und schlagen vor,dass diese verbindlichen Mindestarbeitsstandards,die zuverlässig vor Armutslöhnen schützen sollen, durch Allgemeinverbindlichkeitserklärungen dadurch entstehen, dass wir nach britischen Vorbild eine Kommission – in Großbritannien heißt sie „Low pay commission“ – einrichten, in der Sozialpartner sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Empfehlungen für die Höhe von Mindestlöhnen erarbeiten, die dann für allgemein verbindlich erklärt werden.
Ich sage dies auch deshalb ausdrücklich, weil ich glaube, dass ein Problem der Forderung nach 7,50 c in bestimmten Branchen im Westen ist,dass sie einen Druck nach unten erzeugen kann. Wir haben im Gültigkeitsbereich des Entsendegesetzes im Bauhauptgewerbe – hier geht es um „Hilfsarbeiter“, also die am niedrigsten eingestuften Gruppen – im Westen ab 01.09. Stundensätze von 10,40 c. Im Abbruchgewerbe sind es 9,49 c, bei Malern und Lackierern 7,85 c, in der Gebäudereinigung 7,87 c. Das ist der Westen. Es ist, wie vor wenigen Tagen beschlossen wurde, das Elektrohandwerk hinzugekommen: Rückwirkend zum 1. September werden dort im Westen 9,20 c bezahlt.
Deswegen sagen wir:Wir brauchen endlich Mindestlöhne, aber aus unserer Sicht branchen- und regionalspezifisch.
Ich glaube, dass die Zeitarbeitsbranche, die sehr stark im Wachsen begriffen ist, ein Signal dafür sein sollte, in welche Richtung es gehen könnte. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie werden nämlich feststellen, dass dort die Arbeitgeberverbände nach einem Mindestlohn rufen, weil sie ordentlich bezahlen und bestimmte Standards einhalten wollen. Denn sie sind dadurch bedroht, dass sich die schwarzen Schafe in der Branche an keine Regel halten. Insofern handelt es sich hier nicht um eine einfache Geschichte nach dem Motto „Hier die Gewerkschaft – da die Arbeitgeber“, sondern hier stehen die Anständigen den Unanständigen gegenüber, um es einmal so auszudrücken.
Ich glaube, dass die Warnungen vor dem Mindestlohn angesichts dessen, was im europäischen Ausland passiert oder passiert ist, übertrieben sind. Nach mir kommt die FDP an die Reihe, die da wahrscheinlich eine ganz andere Haltung vertritt.
Die FDP sollte sich einmal überlegen, ob die Weltuntergangsgesänge, die der Kollege Posch jetzt gleich wieder anstimmen wird, mit der Wirklichkeit nicht relativ wenig zu tun haben.
Wir haben in vielen Ländern Mindestlöhne,auch in Großbritannien, das seit Maggie Thatcher nun wirklich nicht mehr als Hort des Sozialismus bezeichnet werden kann. Es sind übrigens Mindestlöhne, die deutlich über dem liegen, was die Gewerkschaften in Deutschland fordern. Herr Kollege Boddenberg, insofern kann ich Ihnen nur raten, einmal aufzuhören, immer nur die internen Streitigkeiten der Großen Koalition im Kopf zu haben.
Stattdessen sollten Sie sich einmal überlegen: Was ist in der Gesellschaft los? Was ist im Niedriglohnsektor los? Herr Boddenberg, schauen Sie einmal, was in den Schlachthöfen im Moment abgeht. Da kennen Sie sich gut aus. Was ist da momentan los? Liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir darauf nicht eine Antwort geben?
Diese Antwort kann aus meiner Sicht nicht sein: „Geh halt zum Amt und beantrage Hartz IV.“ Das wäre dem Problem nicht angemessen. – Vielen Dank.
Danke sehr, Herr Al-Wazir. – Zu einer Kurzintervention hat sich Herr Wintermeyer gemeldet. Herr Wintermeyer, Sie haben das Wort.
Vielen Dank,Herr Präsident.– Herr Kollege Al-Wazir,ich habe mich noch einmal gemeldet, allerdings nicht, um Ihre dummen Unterstellungen zurückzuweisen. Diese zeigen Ihre Kinderstube, die ich nicht kommentieren möchte.
Aber ich will eines sagen: Sie haben einen Vergleich zwischen Wahlbeteiligung und Mindestlohn gezogen. Das muss man wirklich noch einmal hinterfragen. Wenn Sie die Wahlbeteiligung in Ihrer Stadt, Offenbach, mit 31 % benennen, stimmt das.Aber stellen Sie es nicht so dar, als ob das hessenweit so wäre. In Ihrer Nachbarstadt Frankfurt – wo Sie mir eben unterstellt haben,ich hätte dummes Zeug behauptet – ist die Wahlbeteiligung 40,4 % gewesen, obwohl es dort auch dieses Problem gibt.
Bei der letzten Kommunalwahl waren es im Main-Taunus-Kreis 47,2 % und in Hessen durchschnittlich 46 %.
Es ist ein Offenbacher Problem und hat nichts mit dem Mindestlohn zu tun. Herr Al-Wazir, wenn die Menschen nicht zur Wahl gehen, hat das damit zu tun – lassen Sie mich das sagen, denn Sie haben den Zusammenhang gezogen –, dass Politik zu kompliziert geworden ist, dass Politik – insbesondere auch durch Sie – ständig skandalisiert und nach außen hin als schmutziges Geschäft dargestellt wird.
Wenn die Menschen nicht mehr wählen gehen, hängt das damit zusammen,dass sie Politik als solche infrage stellen, wenn bei Diäten- und bei Altersversorgungsdebatten immer wieder auf den Putz gehauen wird.Sie sind immer der Erste, der dabei mitmacht. Mindestlöhne können und sollen nicht staatlich verordnet, sondern durch die Tarifparteien ausgehandelt werden. Das ist der richtige Weg. Starke Gewerkschaften und – wie vorhin von Frau Ypsilanti behauptet worden ist – auch Unternehmen, die es wollen, können sich zusammenfinden.
(Andrea Ypsilanti (SPD): Auf einmal wollen Sie schlagende Gewerkschaften! Das ist ja das Allerneueste! Gerade dann, wenn es Ihnen passt! Ich glaube, ich höre nicht recht!)
Sie können die entsprechenden Mindestlöhne im Interesse Ihrer Beschäftigten und der Wirtschaft ausarbeiten.
Wenn das beschlossen ist, sind wir alle glücklich. Aber bitte behaupten Sie nicht, das sei alles dummes Zeug. Das ist Realität. Das ist alles, was wir wünschen. – Danke.
Lieber Herr Kollege Wintermeyer, als ich das erste Mal wählen durfte – das war bei der Kommunalwahl im März 1989 –, lag die Wahlbeteiligung hessenweit, wenn ich mich richtig erinnere, um die 75 %. Jetzt sagen Sie, die Wahlbeteiligung von 46 %, die wir im Jahr 2006 hatten, sei riesig. Außerdem sagen Sie, Kumulieren und Panaschieren seien schuld an geringerer Wahlbeteiligung. Lieber Herr Kollege, Sie sagen, mehr Bürgerbeteiligung führe zu weniger Wahlbeteiligung. Sie müssten noch einmal überlegen, ob das Sinn macht.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Axel Wintermeyer (CDU))
Ich sage es noch einmal: Machen Sie es sich nicht so einfach. Es geht nicht nur um die Frage der Sozialstruktur. Aber das Grundproblem ist, dass da, wo die Sozialstruktur relativ „schlecht“ und die Arbeitslosigkeit hoch ist, wo es also wirklich Probleme gibt, die Wahlbeteiligung besonders niedrig ist. Das deutet darauf hin, dass es eine Masse von Menschen gibt, die sich von Politik insgesamt nichts mehr erwarten.Davon sind Sie – noch – nicht so betroffen wie andere.Das hat in den letzten Jahren vor allem die SPD als Volkspartei getroffen. Aber machen Sie sich nichts vor: Irgendwann sind die über 65-Jährigen, die sonntags nach der Kirche zum Wahllokal gehen und immer die CDU ankreuzen, auch nicht mehr da. Dann trifft es Sie genauso. Deswegen, finde ich, sollte man es sich nicht so einfach machen.
Nein, das ist nicht diskriminierend. Das sind die Wahlstatistik und die Altersschichtung der hessischen Wählerinnen und Wähler. Schauen Sie einmal in die Veröffentlichungen des Statistischen Landesamtes.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Wenn er meint, CDU zu wählen, sei Diskriminierung – vielleicht hat er recht?)
Wenn sich der parlamentarische Geschäftsführer der Landtagsfraktion der hessischen CDU über Skandalisierung beklagt, dann hat das einen ganz besonderen Reiz.
Lieber Herr Kollege Wintermeyer, rufen Sie einmal Franz Josef Jung an, und fragen Sie ihn, was er dazu gesagt hätte. – Vielen Dank.
Danke sehr, Herr Al-Wazir. – Herr Posch, Sie haben jetzt für die FDP-Fraktion das Wort. Die Redezeit beträgt 15 Minuten.
Herr Präsident, meine Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst einmal vorwegschicken, dass wir nicht vergessen sollten, dass wir uns in der Zielsetzung eigentlich einig sind. Ich glaube, niemand in diesem Hause ist damit einverstanden, wenn jemand zu Löhnen beschäftigt wird, die dazu führen, dass er kein lebenswürdiges Dasein führen kann.