Protocol of the Session on July 22, 2020

Jetzt hat zur Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung, Drucksache 16/8506, Herr Staatssekretär Klenk das Wort.

(Abg. Rainer Stickelberger SPD: Das wird jetzt schwer!)

Herr Kollege Stickelberger, es wird nicht schwer. – Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Professor Dr. Goll, ich halte mich jetzt an Ihre Aussage, heute keine Vergangenheitsbewältigung zu machen.

Meine Damen und Herren, die Landesregierung legt heute den Entwurf für ein Gesetz zur Änderung wahlrechtlicher Vor schriften vor. Die wesentlichen Punkte dieses Entwurfs sind die dauerhafte Streichung des Wahlrechtsausschlussgrunds der Vollbetreuung, der Wählbarkeitsausschluss für Bürger meisterwahlen bei Geschäftsunfähigkeit und die Aufnahme von zwei Richtern des Verwaltungsgerichtshofs in den Lan deswahlausschuss.

Durch die Abschaffung des Wahlrechtsausschlussgrunds der Vollbetreuung sorgen wir dafür, dass der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das den Wahlausschlussgrund in dieser Form für verfassungswidrig erklärt hat, dauerhaft Rech nung getragen wird. Freilich besteht aufgrund einer befriste ten Regelung das Wahlrecht für Personen, für die für alle An gelegenheiten ein Betreuer bestellt ist, bereits jetzt. Auch oh ne den heute in den Landtag eingebrachten Gesetzentwurf – deswegen verstehe ich die Aufregung nicht – würde das Wahl recht für die kommende Landtagswahl gelten. Aber es ist rich tig, bereits jetzt eine dauerhafte Regelung zu schaffen, die den Betroffenen Gewissheit bietet und ein verfassungskonformes Wahlrecht für die Zukunft sichert.

Zugleich werden nach dem Vorbild des Bundeswahlrechts de taillierte Regelungen für die Wahlassistenz, also die Unter stützung von Menschen mit Behinderungen und Menschen, die nicht lesen können, bei der Wahl geschaffen.

Auch die Fraktionen von SPD und FDP/DVP haben einen Ent wurf vorgelegt, der im Kern die gleichen Regelungen bein haltet und sich an das Bundeswahlrecht anlehnt. Insofern stim men beide Gesetzentwürfe – da gebe ich Ihnen recht – über ein.

Ich denke aber, es besteht auch Einigkeit darüber, dass die Re gelungen zur Assistenz auch für die Volksabstimmung gelten sollen, wie es der Regierungsentwurf, nicht aber der Gesetz entwurf der SPD und der FDP/DVP vorsieht.

Zwei weitere Regelungen, die über den Entwurf von SPD und FDP/DVP hinausgehen, sieht der Regierungsentwurf vor, näm lich die Aufnahme von zwei Richtern in den Landeswahlaus schuss, wie es bereits bei Bundestags- und Europawahlen be währte Praxis ist, und den Ausschluss von der Wählbarkeit bei Bürgermeisterwahlen für geschäftsunfähige Personen.

Die Abschaffung des Wahlrechtsausschlusses für Menschen, die unter Vollbetreuung stehen, bringt nicht nur das aktive, sondern auch das passive Wahlrecht mit sich. Der Bürgermeis ter aber hat in Baden-Württemberg – ich glaube, darüber sind wir uns alle einig; das wissen wir – eine so herausgehobene und verantwortungsvolle Position, dass die Wahl einer ge schäftsunfähigen Person ausgeschlossen werden sollte.

Wenn ich hier noch einmal einfließen lassen darf: Der Gedan ke kommt gar nicht aus unserem Haus. Der wird ständig von der kommunalen Praxis an uns herangetragen, meine Damen und Herren. Oberbürgermeister und Bürgermeister sind u. a. gesetzliche Vertreter der Gemeinde und Leiter der Gemeinde verwaltung mit zahlreichen Verwaltungszuständigkeiten. Es ist deshalb schlichtweg unmöglich, dass jemand, der aufgrund einer Erkrankung oder Behinderung in eigenen Angelegen heiten dauerhaft nicht geschäftsfähig ist, als gesetzlicher Ver treter der Gemeinde agiert.

Deshalb soll in der Gemeindeordnung klargestellt werden, dass Personen, die nach bürgerlichem Recht geschäftsunfähig sind, nicht zum Bürgermeister wählbar sind. Das ist im Hin blick auf die Rechtsstellung des Bürgermeisters in BadenWürttemberg sachgerecht und dient der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Somit trägt der Gesetzentwurf der Regierung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und den Be langen der Betroffenen umfassend Rechnung.

(Zuruf)

Ich bedanke mich schon jetzt für Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.

(Beifall)

Entschuldigung. Ich habe die Meldung zu einer Frage übersehen. Herr Staatssekretär, lassen Sie die Frage von Herrn Abg. Dr. Goll noch zu?

Ja. – Bitte, Herr Kollege Goll.

Herr Staatssekretär, ich ha be nur folgende Frage: Wie schätzen Sie den Verstand des Vol kes ein, wenn Sie es für imstande halten, jemanden zum Bür germeister zu wählen, der in allen Belangen einen Betreuer braucht?

(Abg. Konrad Epple CDU: Wahl ist Wahl!)

Herr Kollege Epple hat die Antwort für mich schon gegeben: Wahl ist Wahl.

Lieber Herr Dr. Goll, Sie haben vorhin gemeinsam mit Frau Wölfle angedeutet, dass sich die Fraktionen möglicherweise für einen gemeinsamen Entwurf zusammentun. Ich habe nicht umsonst gesagt, dass das Thema Bürgermeisterwahl ständig an uns herangetragen wird. Deswegen müssen wir uns viel leicht alle gemeinsam einmal damit auseinandersetzen und uns fragen, ob wir hier eine Regelung schaffen wollen oder ob man es einfach so laufen lässt und es in der Folge gegebe nenfalls im Einzelfall heilen muss. Das ergeben jetzt die wei teren Beratungen.

Vielen Dank.

(Beifall)

Nun ist die Fraktion GRÜ NE an der Reihe. Herr Abg. Poreski, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, liebe Kol leginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Landesregierung ersetzen wir eine vorläufige Regelung

durch eine dauerhafte. Endlich! Denn allein die Tatsache, dass wir noch im Jahr 2020 – im Jahr 2016 war es auch nicht viel anders – über ein inklusives Wahlrecht beraten müssen, ist ei gentlich ein Irrwitz. Die Rechte von Menschen mit Behinde rungen und ihre Gleichstellung haben Verfassungsrang. Die UN-Behindertenrechtskonvention mit ihrer Festschreibung selbstverständlicher Teilhaberechte ist in Deutschland seit 2009 geltendes Recht. Darin ist klar festgeschrieben: Wer durch eine Behinderung benachteiligt ist, hat das Recht auf einen Nachteilsausgleich, damit selbstverständliche Teilhabe individuell möglich wird.

Dafür haben wir im Land vieles auf den Weg gebracht. Nach unserem bundesweit besten Landesbehindertengleichstellungs gesetz und dem Landeskompetenzzentrum Barrierefreiheit, das nun gegründet wird, werden wir auch bei der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes dazu beitragen, dass wir dem Ziel einer selbstverständlichen Inklusion näherkommen, etwa mit einer landesweit einheitlichen, personenzentrierten Bedarfs ermittlung für Selbstbestimmung und für klare Rechtsansprü che. Denn wir sagen: Wer hilfsbedürftig ist, hat Anspruch auf Unterstützung, damit ein selbstverständliches Miteinander möglich wird.

Im Betreuungsrecht gilt dieser Grundsatz schon seit den frü hen Neunzigerjahren, seit das Vormundschaftsrecht abgelöst wurde. Im Betreuungsrecht wird ein Mensch nicht mehr ent mündigt. Eine rechtliche Betreuung ist keine Bevormundung mehr, sondern eine gezielte Unterstützung in den Bereichen Vermögen, Gesundheit und Aufenthaltsrecht. Eine Betreuerin oder ein Betreuer handelt mit einer und bei Bedarf in Vertre tung einer betreuten Person, aber nie gegen sie oder über ih ren Kopf hinweg. Daraus folgt eigentlich zwingend: Wer die se Unterstützung beansprucht, darf seine bürgerlichen Rech te nicht verlieren.

Das war aber im Wahlrecht bis vor Kurzem anders. Da schim merte das alte Vormundschaftsrecht mit seiner Entmündigung durch. Wer Betreuung in allen Lebensbereichen beanspruchte, wurde pauschal vom Wahlrecht ausgeschlossen, unabhängig vom eigenen Willen, unabhängig von den eigenen Interessen. Diesen Missstand hat des Bundesverfassungsgericht im April 2019 beendet – zum Glück!

Bei der Umsetzung des inklusiven Wahlrechts waren wir im Land in einem Dilemma. Es ergibt Sinn, das Wahlrecht im Bund und im Land einheitlich inklusiv zu regeln. CDU und SPD kamen im Bund aber nicht rechtzeitig in die Pötte. Wir haben deshalb im Land im Jahr 2019, quasi in letzter Minute, eine Übergangsregelung geschaffen, die ein inklusives Wahl recht für die Kommunalwahlen im vergangenen Jahr sowie auch schon für die Landtagswahl im kommenden Jahr ermög licht hat bzw. ermöglicht. Damit haben wir im Land dem Ur teil des Bundesverfassungsgerichts entsprochen. Während der Bund peinlich hinterherhinkte, gab und gibt es nach diesem Urteil im Land keinerlei Wahlrechtsausschluss mehr.

Bei der Europawahl war es beispielsweise so, dass es die Be troffenen beantragen mussten. Stellen Sie sich vor: Ein allge meines gleiches Wahlrecht muss man beantragen! Das war bei der Kommunalwahl, die gleichzeitig stattgefunden hat, nach unserer Regelung eben nicht der Fall. Alles andere ist Sabi nes Märchenstunde – das muss ich schon sagen, Frau Kolle gin Wölfle.

(Beifall – Zurufe, u. a. Abg. Sabine Wölfle SPD: Das war doch gar nicht die Frage!)

Wir haben im Ergebnis ein durchgehend inklusives Wahlrecht erreicht. Ich bedanke mich auch sehr herzlich bei unserem Ko alitionspartner, ganz persönlich bei Ulli Hockenberger, für die konstruktive und sehr sorgfältige Zusammenarbeit.

(Beifall)

Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf bekommen wir nicht nur ein dauerhaft inklusives Wahlrecht, sondern auch ei nes, das mit dem verspätet auf den Weg gebrachten Bundes recht harmonisiert ist. Das ist ein wichtiger Schritt auf unse rem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Viele Barrieren müssen wir noch ge meinsam mit den Betroffenen abräumen. Der größte Teil des Weges liegt noch vor uns.

Vielen Dank.

(Beifall – Zurufe – Das Redepult wird desinfiziert.)

Genau. Der Kollege Ho ckenberger macht sich schon auf den Weg. – Vielen Dank. Ich glaube, das Redepult ist jetzt gut sauber.

Frau Präsidentin, werte Kol leginnen und Kollegen! Das Wahlrecht ist das vornehmste Recht des Bürgers in einer Demokratie. Wir behandeln heute in erster Lesung ein zukunftsgerichtetes Gesetz, das dieses Recht in Baden-Württemberg auch dauerhaft für alle sichert.

Zunächst ein kurzer Blick zurück, den auch ich mir gönnen möchte. Das Bundesverfassungsgericht hat im April 2019 fest gestellt, dass Wahlrechtsausschlüsse verfassungswidrig sind. Der Bundesgesetzgeber hat darauf im Juni reagiert – nach der Kommunalwahl, wie der Kollege Poreski zu Recht betont hat. Das will ich an dieser Stelle noch einmal sagen.

Wir reagieren heute mit dem Gesetzentwurf auf die neuesten Entwicklungen. Der Regelungsinhalt ist vom Staatssekretär beschrieben worden. Es geht im Wesentlichen um das Land tagswahlrecht, um die direkte Demokratie auf Landesebene – Volksantrag, Volksbegehren und Volksabstimmungen –, um Kommunalwahlen, Wahlen zur Regionalversammlung des Verbands Region Stuttgart, Bürgerbegehren, Bürgerentschei de – also all das, was man mit dem Kommunalwahlrecht ver bindet.

Wir schaffen damit – das ist wichtig – über den 24. Oktober 2021 hinaus Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Die davon betroffenen Menschen – wir haben es gehört: rund 6 000 in Baden-Württemberg – warten auf diese zukunftweisende Re gelung. Das wissen wir aus in der Vergangenheit immer wie der gestellten Nachfragen.

Demokratie und Inklusion waren für uns immer zwei Seiten einer Medaille. Deswegen haben wir als Landesgesetzgeber auch dafür gesorgt, dass die davon betroffenen Menschen – ich muss das noch einmal wiederholen – im Mai 2019 wie je der andere an der Kommunalwahl teilnehmen konnten. Sie mussten nicht betteln, dass sie ins Wählerverzeichnis einge tragen werden. Wir haben sichergestellt, dass ihr Recht garan

tiert war. Damals hatte der Bund noch nicht reagiert. Ich will das noch einmal sagen.

(Beifall – Zuruf)

Wir haben vor der Reaktion des Bundes hier im Haus am 3. April 2019 ein Übergangsgesetz geschaffen und haben da mit den Menschen diese Sicherheit gegeben.

Als hätte ich es geahnt, habe ich einen Satz an dieser Stelle schon vorher aufgeschrieben. – Zu keinem Zeitpunkt hat al so die Befürchtung, die sich mitunter auch in diesem Haus so gar zur vorwurfsvollen Behauptung verdichtet hat, wir wür den diese Menschen vergessen, zugetroffen, Frau Wölfle. Wir haben sie nicht vergessen, wir haben rechtzeitig an sie gedacht

(Abg. Sabine Wölfle SPD: Stimmt doch gar nicht!)

und haben dafür gesorgt, dass sie zu ihrem Recht kommen.

(Beifall – Zurufe)

Daher gibt es überhaupt keinen Grund zur Behauptung, dass die Menschen bei uns vergessen waren.