Protocol of the Session on October 17, 2019

Frau Prä sidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist mehrfach an geklungen: Der obligatorische Europabericht und die Debat te über ihn fallen zeitlich auseinander. Deshalb sind in der De batte häufig Themen im Vordergrund, die zum Zeitpunkt der Erstellung des Berichts in dieser Dimension, in dieser Bedeu tung nicht gegenwärtig waren.

Aber ich finde das auch nicht schlimm, sondern dies gibt uns, dem Parlament, die Chance, entlang der europäischen Ent

wicklung den Diskurs hier in diesem Hohen Haus fortzuset zen. Ich glaube, es ist gut, dass wir jede sich bietende Gele genheit nutzen, um Europa zum Thema zu machen.

Der heutige Tag könnte für Europa im Nachhinein ein bedeu tender werden. Ich drücke mich vorsichtig aus, weil wir die Botschaften, dass es gelungen sein könnte, für den Brexit doch noch eine Lösung, ein Ausstiegsszenario zustande zu bringen, kennen, wir aber auch wissen, dass sie sich schon häufig zer schlugen. Allerdings hat man heute das Gefühl, dass zumin dest aus dem Munde der EU 27 und des Chefunterhändlers Barnier ein gangbarer Weg aufgezeigt wurde, der es auch den Briten ermöglichen müsste, ermöglichen könnte, doch noch zu einem Ausstiegsdeal zu kommen.

Konkret haben sich die Kommission und die britische Regie rung auf den geänderten Text für das Nordirland-Protokoll des Austrittsabkommens und die politische Erklärung für die zu künftigen Beziehungen geeinigt. In der Tat sind es die poli tisch umstrittensten Fragen, die jetzt neu verhandelt wurden. Gleichzeitig ist festzustellen, dass alle anderen Regelungen dieses Vertragswerks so bleiben, wie sie vor einem Jahr be schlossen wurden. Jedem Versuch, den Vertrag und das Paket aufzuschnüren, haben die EU 27 widerstanden,

(Beifall des Abg. Willi Stächele CDU)

sind gestanden, waren geschlossen. Das ist die gute Nachricht dieses Prozesses.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der Grü nen, der SPD und der FDP/DVP – Abg. Willi Stäche le CDU: Bravo!)

Es ist zentral, dass es gelungen ist, die wesentlichen Bedin gungen der EU für eine Änderung des Abkommens sicherzu stellen. Erstens: keine harte Grenze auf der irischen Insel. Zweitens: Sicherung des historischen Karfreitagsabkommens. Und drittens: Sicherung der Integrität des Binnenmarkts. Das sind Punkte, die den Frieden in Europa bewahren...

Herr Minister!

... – las sen Sie es mich bitte im Zusammenhang schildern – und den Binnenmarkt als Grundpfeiler der europäischen Einigung schützen.

Im Fokus stand daher folgender Punkt: Nordirland soll im Zollgebiet des Vereinigten Königreichs bleiben, aber die Re gelungen des EU-Binnenmarkts für Waren, zur Lebensmittel sicherheit, zur Mehrwertsteuer und im Beihilferecht sollen weiter gelten. Es soll eine Zollpartnerschaft zwischen EU und Großbritannien für das Gebiet von Nordirland eingerichtet werden. Das nordirische Parlament soll frühestens nach vier Jahren darüber entscheiden, ob die Sonderregelungen Bestand haben.

Für die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Ver einigten Königreich wurde ebenfalls Klarheit geschaffen. Ziel ist jetzt ein ambitioniertes Freihandelsabkommen.

Nun muss dieser neue Deal im Europäischen Parlament und am Samstag im britischen Parlament eine Mehrheit finden –

und das dann übrigens im vierten Anlauf. Premier Johnson braucht dafür Stimmen aus anderen politischen Lagern. Wir haben gehört, dass die Stimmen und die Stimmungen dort sehr unterschiedlich sind. Man muss abwarten, was sich bis Sams tag ergibt. Aus der nordirischen Partei DUP hört man aller dings bislang Ablehnung.

Dabei kann dieses Abkommen eine Brücke bauen, eine Brü cke hin zu einem partnerschaftlichen Verhältnis zwischen Eu ropa und Großbritannien in der Zukunft. Denn Großbritanni en wird ein wichtiger Partner für uns in Europa und in der NA TO bleiben. Es lohnt sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, bis zur letzten Sekunde der Frist dafür zu kämpfen, dass wir einen Ausstiegsdeal bekommen und dadurch die Chance ha ben, auch künftig mit Großbritannien gut zusammenzuarbei ten.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der Grü nen, der SPD und der FDP/DVP)

Herr Minister, lassen Sie eine Zwischenfrage des Abg. Dr. Merz zu?

Bitte schön, Herr Dr. Merz.

Danke schön, Herr Minister, auch danke für den aktuellen Statusbericht. Genau das ist der Status. Jetzt schauen wir mal, was von allen beteiligten Sei ten daraus gemacht wird.

Jetzt entschuldigen Sie bitte die Frage. Ich möchte mich jetzt nicht als Krämerseele outen, aber wir haben doch immer eine Kosten-Nutzen-Betrachtung. Über den Nutzen der EU haben wir einen Dissens; okay, kann sein. Aber die Kosten sind ein deutig. So, wie ich erfahren habe, wird Deutschland den kom pletten Beitrag von Großbritannien übernehmen, sogar frei willig übernehmen, wenn Großbritannien ausscheidet. Ist es nicht etwas absurd, dass wir uns über den Zustand der EU so freuen? Nennen Sie doch mal Zahlen, was uns die ganze Par ty kostet. Dann müssten wir noch einmal einen Schritt zurück gehen und das Kosten-Nutzen-Verhältnis betrachten.

(Zuruf der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE)

Herr Dr. Merz, es war gut, dass ich diese Frage zugelassen habe, weil mir dies die Chance gibt, eine These, die Sie in den Raum ge stellt haben, klar und deutlich zu widerlegen. Kein Mensch, niemand in der deutschen Politik hat jemals behauptet, dass die Bundesrepublik Deutschland allein und ausschließlich den Brexit-Gap, das heißt, den Finanzierungsausfall durch den Austritt Großbritanniens, übernehmen wird. Niemand hat das getan.

(Abg. Daniel Andreas Lede Abal GRÜNE: Doch! Herr Merz hat es getan!)

Ja, von mir aus, aber niemand, der in diesem Land Verant wortung trägt und wirklich ernst genommen wird.

(Heiterkeit – Vereinzelt Beifall – Abg. Peter Hofelich SPD: Quelle!)

Herr Dr. Merz, ich finde das einfach nicht seriös. Wir müssen natürlich über den Brexit-Gap reden.

(Abg. Dr. Heiner Merz AfD: Herr Minister, Sie ha ben einen Informationsvorsprung! Klären Sie mich doch mal auf!)

Entschuldigung, Herr Abg. Dr. Merz, aber wir führen hier keine Zwiegespräche. Sie hat ten das Wort für eine Zwischenfrage.

Wir ha ben durch den Austritt Großbritanniens einen Brexit-Gap von etwa 12 bis 14 Milliarden €, und wir werden im Zuge des künftigen Mehrjährigen Finanzrahmens darüber befinden müs sen, wie wir diese Finanzierungslücke schließen: einerseits durch Einsparungen in den aktuellen Programmen und ande rerseits durch mögliche Mehreinzahlungen, aber dann nicht ausschließlich durch die Bundesrepublik Deutschland, son dern durch alle Staaten der Europäischen Union. Das wird Ge genstand der Beratungen in den nächsten Wochen sein.

Aber, Herr Dr. Merz, unterlassen Sie es bitte, immer den Ein druck zu erwecken, als seien allein die Deutschen die Zahl meister in Europa. Es ist auch die Bundesrepublik Deutsch land, es sind die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, die ganz entscheidend von Europa und der europäischen Entwick lung profitieren.

(Beifall bei den Grünen und der CDU sowie Abge ordneten der SPD und der FDP/DVP – Abg. Martin Grath GRÜNE: Richtig!)

Insofern, meine Damen und Herren, weiß ich noch gar nicht, ob man sich jetzt in dieser Stunde, in der sich möglicherwei se ein Ausstiegsdeal abzeichnet, freuen soll. Es sind und blei ben ein lachendes und ein weinendes Auge, weil das natürlich heißt, dass Großbritannien dann endgültig aus der Europäi schen Union ausscheiden wird. Wir hatten immer noch die Hoffnung, dass sich auf der Strecke vielleicht doch etwas ver ändert; denn die negativen Entwicklungen sind in Zahlen be legbar und ablesbar, auch die negativen wirtschaftlichen Aus wirkungen.

Das britische Pfund hat seit 2015 etwa 18 % seines Wertes verloren. Die Automobilproduktion in Großbritannien ist in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr um ein Fünftel einge brochen. Viele Unternehmen planen Werksschließungen in Großbritannien, und auch die Insolvenz des britischen Reise veranstalters Thomas Cook wird als Vorbote des Brexits ge sehen. Dieser Brexit betrifft auch uns, wie das Beispiel Tho mas Cook zeigt, und könnte Unternehmen auf dem Kontinent mit in den Abwärtsstrudel reißen.

All diese Gefahren sind heute nicht vorüber. Auch der soge nannte geordnete Brexit bleibt ein negativer Faktor für Euro pa. Was der Brexit im Alltag konkret bringt, werden wir erst im Laufe des kommenden Jahres bzw. der kommenden Jahre sehen. Die Landesregierung wird den Brexit und seine Fol gen deswegen auch nach dem heutigen Tag im Auge behalten – in Stuttgart, in Berlin und durch unsere Landesvertretung in Brüssel.

Meine Damen und Herren, heute ist von mehreren Seiten die Zusammenarbeit mit Frankreich angesprochen worden. Die

Koordination, die Federführung für die Frankreich-Konzep tion liegt nach der Zuständigkeitsverteilung innerhalb unse rer Regierung beim Staatsministerium. Dort ist, wie ich fin de, eine erste Grundlage geschaffen worden.

(Unruhe bei der AfD)

Der Herr Minister hätte gern auch auf der rechten Seite etwas mehr Aufmerksamkeit.

Nicht nur ich. Ich glaube, auch die Kolleginnen und Kollegen des Par laments wären sehr dankbar,

(Beifall der Abg. Andrea Bogner-Unden GRÜNE und Peter Hofelich SPD)

wenn bestimmte Gespräche nicht während der Debatte, son dern außerhalb des Plenarsaals geführt würden, wenn sie zwingend erforderlich sind.

Insofern ist es ganz entscheidend, dass sich der erste Entwurf des Staatsministeriums zu einer Frankreich-Konzeption jetzt nicht allein in guten Ideen erschöpft, sondern dass er auch mit den notwendigen Finanzmitteln unterlegt wird. Da gab und gibt es die Differenz, dass man nicht an einem Ort die guten Ideen entwickelt und dann den Ressorts den Ball zuspielt, die Mittel dafür zu besorgen. Das ist der Punkt, über den wir dis kutieren.

Ich würde mich freuen, wenn es im Zuge des Haushalts ge länge, die auf den Tisch gebrachten guten Ideen interfraktio nell, in einer gemeinsamen Kraftanstrengung, die von der ge samten Landesregierung getragen wird, finanziell zu unterle gen. Das müsste uns Europa in diesen schwierigen Zeiten wert sein.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen, der CDU, der SPD und der FDP/DVP)

Ich will übrigens darauf hinweisen, dass wir die deutsche Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020 – da will sich auch mein Haus einbringen – zur Stärkung der deutschfranzösischen Partnerschaft durch ganz konkrete Veranstaltun gen, Netzwerke und Termine nutzen wollen. In den deutschfranzösischen Partnerschaften ist zu vieles Routine und selbst verständlich geworden. Wir brauchen wieder neues Feuer, neue Impulse. Gerade wir in Baden-Württemberg sollten uns einbringen, den Motor der deutsch-französischen Partner schaft zu revitalisieren.

(Beifall der Abg. Andrea Bogner-Unden GRÜNE)

Meine Damen und Herren, ich war in der letzten Woche in Brüssel und konnte die aktuelle Stimmungslage auch mit Blick auf die künftige Kommission verinnerlichen. Es waren die Tage, an denen etwa der rumänische und der ungarische Kandidat vom Parlament abgelehnt wurden. Es war der Tag, an dem absehbar war, dass die französische Kandidatin am Ende keine Zustimmung des Parlaments bekommen würde. Das hat natürlich zu einem kleinen Erdbeben geführt, weil das Parlament mit dieser Entscheidung dem französischen Präsi denten die Quittung dafür gab, dass er seinerseits das Spitzen kandidatenmodell zerschlug. Da spielen viele Faktoren eine Rolle.

Klar ist – das wissen wir seit heute verbindlich –: Es wird kei ne neue Kommission zum 1. November geben.

Jetzt ist der 1. Dezember angepeilt. Wenn das denn gelingen sollte, dann wäre dieser Monat kein Problem. Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass wir noch in diesem Jahr zur neuen Kommission kommen.