Protocol of the Session on November 26, 2003

Erstens: Wir brauchen nicht nur mehr, sondern durch gute pädagogische Konzepte und zusätzliche Lehrerwochenstunden auch eine qualitativ gute Ganztagsbildung in den Schulen. Auf keinen Fall dürfen – ich sage es in Anführungszeichen – „Aufbewahrungsschulen“ deshalb, weil sie billig sind, zum Leitmodell für ganztägige Betreuung werden.

Zweitens: Wir brauchen Ganztagsbildung nicht nur an Brennpunktschulen, sondern auch in allen Schultypen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Abg. Klein- mann FDP/DVP: Richtig!)

Drittens: Wir brauchen Ganztagsbildung als Chance für den Ausbau einer konsequenten individuellen Förderung für leistungsschwache und leistungsstarke Schülerinnen und Schüler.

(Beifall bei der SPD)

Viertens: Wir brauchen Ganztagsbildung in einer umfassenden Kooperation einer sich weiterentwickelnden Schule mit Jugendhilfe und Partnern der außerschulischen Jugendbildung.

Fünftens: Wir brauchen Ganztagsbildung in einer halbwegs ausgeglichenen Verteilung in allen Landesteilen, die Südbaden nicht ausspart.

Sechstens: Wir brauchen hierzu das Investitionsprogramm des Bundes und sollten es zur Entwicklung von Innovation und Qualität in der Ganztagsbildung nutzen.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Rech CDU)

Davon, meine Damen und Herren, ist wenig zu spüren, und das muss sich ändern.

(Abg. Ursula Haußmann SPD zur CDU: Macht ihr Betriebsausflug, oder wo seid ihr?)

Ich bedanke mich für die strapazierte Aufmerksamkeit – zumindest bei denen, für die das zutrifft.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Kleinmann.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Das war eine hochinteressante Rede mit sechs Punkten, Herr Bayer, die wir, Kollege Wacker und ich, problemlos unterschreiben können.

(Lachen bei der SPD – Abg. Birzele SPD: Sehr gut, wenn ihr auch danach handelt! Nicht nur unter- schreiben, sondern auch handeln!)

Ich wüsste nicht, welche nicht. Ihre Rede enthielt manche Positionen, die ich nicht ganz teile – das soll Ihnen nachher die Frau Ministerin klar machen –,

(Heiterkeit bei der SPD)

weil Ganztagsschule und Schulform nicht unbedingt zusammenhängen. Da hat sie völlig Recht; da sind wir uns völlig einig.

Ich freue mich aber, dass wir in diesem Hause insofern Einigkeit haben, als man das schulische Ganztagsangebot und Ganztagsschulen als sinnvoll, ausbauwürdig und notwendig ansieht.

Ich möchte dazu allerdings einen Einschub hinzufügen. Sie sagen, das Programm sei vom Bund aufgelegt und habe damit wiederum einen Anstoß gegeben. Dem stimme ich zu. Ich habe damals auch gesagt: Wir sind Schwaben, wir nehmen gerne das Geld. Wir verzichten nicht darauf. Nur eines, Herr Bayer, ist auch klar: Nicht erst seitdem dieses Programm aufgelegt ist, ist das Programm für Ganztagsschulen und Ganztagsbetreuung erweitert worden, sondern das ist exakt seit 1996 am Laufen; damals gab es 70 Angebote. Ich habe es schon einmal gesagt: Als Sie 1992 an die Regierung kamen, waren es auch 70. Wir sind uns ja einig, dass man das Ganztagsangebot ausbauen muss. Inzwischen sind es aber über 140 Angebote geworden, schon bevor das Programm des Bundes kam – bloß, damit das klar ist. Das ist keine Erfindung aus Berlin, sondern eine Erfindung, was Baden-Württemberg betrifft, aus Stuttgart.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP und der CDU – Abg. Birgit Kipfer SPD: Wie viel sind es insgesamt?)

Die Wahrheit wollen Sie nicht hören, die ist für Sie hart. Sie haben nicht eine einzige zusätzliche Ganztagsschule in den vier Jahren „hinbekommen“, in denen Sie mitregiert haben.

(Zuruf des Abg. Moser SPD)

Die Unterschiede, die konkret im Einzelnen bestehen, will ich damit nicht wegwischen. Ich werde darauf noch zurückkommen.

Mir erscheint es richtig, mit einigen übergeordneten Überlegungen zu beginnen, die mit dem Thema Ganztagsschulen zunächst nicht unmittelbar zu tun haben, die Sie aber in Ihrer Rede auch gebracht haben.

Baden-Württemberg ist gegenwärtig dabei – alle anderen Bundesländer übrigens auch –, die Schulqualität, das heißt die weitere Verbesserung von Qualität und Leistungsfähigkeit der Schulen, nicht nur zu diskutieren, sondern auch grundlegende Antworten zu finden und diese wiederum in konkrete Maßnahmen zur Qualitäts- und Leistungsverbesserung umzusetzen. Sie sprachen das mit dem Stichwort Schulentwicklung an.

Ich will den internationalen Vergleich von Schulleistung und -qualität, den PISA angestellt hat, in diesem Zusammenhang nicht überbewerten. Aber die öffentliche Diskussion, die diese Untersuchung in Gang gesetzt hat, sollten und müssen wir als Glücksfall begreifen, den es politisch zu nutzen gilt.

Was steht im Zentrum der Ergebnisse von PISA und früheren, grundsätzlich in die gleiche Richtung weisenden Untersuchungen? Zu den zentralen Botschaften dieser Untersuchungen gehören für mich ohne Zweifel zwei Dinge. Zum einen ist es eine unabdingbare Voraussetzung für die Steigerung von Qualität, Leistungsfähigkeit und nicht zuletzt Effizienz der Schule, die Eigenständigkeit, die Eigenverantwortlichkeit der einzelnen Schule so weit wie irgend möglich zu stärken. „So weit wie irgend möglich“ heißt dabei natürlich im Rahmen der durch die Landesverfassung und durch das Grundgesetz vorgegebenen staatlichen Verantwortung für das Bildungswesen.

Meine Damen und Herren, dass sich die PISA-Diskussion in erster Linie auf eine Betrachtung der so genannten PISAGewinner gestürzt hat, ist verständlich, ist geradezu unvermeidlich, ist letztlich auch nicht falsch. Interessanter erscheint mir freilich der Blick auf die Länder, die sich bei PISA im Vergleich zu zeitlich früheren Untersuchungen haben verbessern können. Denn hier kann man lernen, was man tun muss, um ein vorhandenes Bildungssystem zu verbessern, zu einem System höherer Qualität, höherer Leistungsfähigkeit und höherer Effizienz zu entwickeln.

Betrachtet man PISA und die vorausgehenden Untersuchungen unter diesem Blickwinkel, so stellt man fest: Die so genannten Aufsteiger sind diejenigen Länder, die ihren Schulen in den zurückliegenden Jahren ein erhöhtes, ein hohes, nach unseren Vorstellungen teilweise sogar extrem hohes Maß an Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit überantwortet und – ich sage das sehr bewusst – zugemutet haben. Denken wir nur beispielsweise an Finnland und teilweise auch an Kanada.

Auch bei freier Redezeit ist hier nicht die Gelegenheit, das im Einzelnen zu vertiefen. Ich führe das aber als empirischen Beleg für die eben nicht nur in irgendeiner Theorie angenommene, sondern sich tatsächlich auch in der Praxis erweisende Überlegenheit eigenverantwortlicher Schulen an und gehe damit über zum zweiten, für mich zentralen Punkt der Ergebnisse von PISA.

Damit meine ich die Diskussion um Bildungsstandards, die durch PISA gerade auch bei uns in Gang gesetzt worden ist. Dabei ist viel vor allem davon gesprochen worden, dass die Formulierung von Bildungsstandards eine Umkehrung der bisherigen Perspektive bedeute, nämlich – schlagwortartig formuliert – den Wechsel von einer „Input-Steuerung“ zu einer „Output-Steuerung“.

Das ist nicht falsch, aber mindestens ebenso wichtig ist ein ganz anderer Aspekt, der sich mit dem Ansatz und der Formulierung von Bildungsstandards verbindet. Wir müssen uns bei diesem Ansatz nämlich klar – jedenfalls klarer als bisher – entscheiden, ob wir diese Standards – Herr Bayer, das haben Sie nicht angesprochen, aber Sie stimmen mir sicherlich zu – als Mindestmaß und Mindestanforderung verstehen wollen, denen mit Durchlaufen der Schule alle Schülerinnen und Schüler gerecht werden, oder ob wir die Standards begreifen wollen im Sinne einer Durchschnittsanforderung bzw. Durchschnittserwartung, die von den Schülerinnen und Schülern eben lediglich im Durchschnitt erfüllt wird, das heißt, dass sie von einem Teil der Schülerinnen und Schüler eben nicht erfüllt wird.

Der PISA-Befund für Deutschland und für Baden-Württemberg lässt sich als die Aufforderung formulieren, Bildungsstandards im Sinne von Mindeststandards zu verstehen. Das heißt konkret, sich in Zukunft noch stärker mit pädagogischen Mitteln um diejenigen Schülerinnen und Schüler zu bemühen, die besondere Schwierigkeiten haben, die zur Lebensbewältigung und zur Bewältigung der beruflichen Anforderungen erforderlichen Bildungsstandards zu erreichen.

Ganztagsschulen, meine Damen und Herren, sind hierfür kein Allheilmittel. Ich habe das am Anfang schon einmal gesagt und muss es noch einmal betonen. Zugleich lassen sie sich umgekehrt auch nicht auf diese sozusagen besondere Aufgabe reduzieren. Grundsätzlich können sie vielmehr – um nur diesen weiteren Aspekt zu nennen – die geeignete Antwort sein auf Veränderungen in der Gesellschaft, Veränderungen vor allem in der Struktur der Familie und im beruflichen Leben, die eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf – nicht nur eines Elternteils oder eben auch eines allein erziehenden Elternteils – erforderlich machen.

Für Schülerinnen und Schüler, die Schwierigkeiten haben, die Standards zu erreichen, sind Ganztagsschulen, wie gesagt, kein Allheilmittel – schon deswegen nicht, weil anderes hinzukommen muss, zum Beispiel und insbesondere eine frühzeitige Sprachförderung. In diesem Zusammenhang sei auch das Stichwort Schulsozialarbeiter genannt.

Aber Ganztagsschulen sind in diesen Fällen ohne Zweifel ein besonders erfolgreiches Angebot. Das übrigens bereits in unserer Koalitionsvereinbarung formulierte Ziel, Ganztagsschulen vorrangig im Bereich der Hauptschulen auszubauen und in diesem Bereich wiederum vorrangig dort, wo

sich die entsprechenden besonderen Anforderungen konzentrieren, ist daher richtig. Ich wiederhole allerdings, dass die FDP/DVP stets besonderen Wert auf die Betonung des Wortes „vorrangig“ gelegt hat, dass es also unser Ziel ist, daneben auch in den anderen Schularten weitere Ganztagsangebote zu machen.

Meine Damen und Herren, Baden-Württemberg beteiligt sich am Investitionsprogramm des Bundes „Zukunft Bildung und Betreuung“ zum Ausbau und zur Errichtung weiterer – ich betone: weiterer – Ganztagsschulen. Die Landesregierung hat übrigens nicht, wie es im Antrag der Grünen formuliert wird, in die Unterzeichnung der Verwaltungsvereinbarung mit dem Bund „eingelenkt“, Frau Kollegin Rastätter. Vielmehr ist das Land dieser Vereinbarung richtigerweise erst dann beigetreten, als der Bund auf seine zunächst formulierten inhaltlichen und konzeptionellen Vorgaben gänzlich verzichtet hat.

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Welche?)

Damals war genau vorgegeben: Für Investitionen in die Einrichtung von Ganztagsschulen gibt es soundso viel, aber es müssen die und die konzeptionellen Vorgaben beachtet werden. Das haben wir herausgenommen, weil wir sagen: Hier gilt die Autonomie des Landes, die Kulturhoheit der Länder.

Baden-Württemberg ist offenbar das Bundesland, das auf das Investitionsprogramm des Bundes am raschesten, Herr Bayer, reagiert hat und bislang die meisten Mittel daraus abgerufen hat. Bis zum 30. September dieses Jahres sind von insgesamt 103 Anträgen zur Errichtung einer Ganztagsschule im Rahmen des Bundesprogramms 33 Anträge als genehmigungsfähig festgestellt worden. Weitere sind in der Zwischenzeit vermutlich hinzugekommen.

Die genannten genehmigungsfähigen Anträge verteilen sich wie folgt auf die Schularten: 2 Grundschulen, 7 Hauptschulen, 14 Grund- und Hauptschulen, 2 Gymnasien, 4 Sonderschulen und 4 Schulzentren. Wir sind damit auf einem guten Weg auch hinsichtlich des Ziels, das Angebot an Ganztagsschulen grundsätzlich in allen Schularten auszuweiten.

Mein dringender Appell auch im Blick auf die heute zur Debatte stehenden Anträge für die weitere Fortsetzung dieses Weges lautet: Lassen wir uns dabei nicht von Zielen leiten, die quantitative Vorgaben machen oder solche, die die zu wählende Schulform betreffen – voll oder teilweise gebundene oder offene Formen.

Die zum Beispiel im Antrag der Grünen vorgesehene Vorgabe, „in der Regel“ offene Ganztagsschulen zu fördern, wird durch die vor Ort bestehenden Vorstellungen offenkundig widerlegt. Denn von den eben genannten Anträgen beziehen sich 6 auf eine Ganztagsschule in voll gebundener Form, 16 auf eine teilweise gebundene und lediglich 11 auf die offene Form. Nein, lassen Sie uns, Frau Kollegin Rastätter – da stimmen Sie mir nachher sicherlich zu –, im Rahmen des finanziell Möglichen – was hier schon auch einmal in aller Deutlichkeit gesagt werden muss – von dem leiten, was Schulen, Eltern und Schulträger vor Ort als erforderlich und eben auch als machbar feststellen.

(Zuruf der Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP)

Wir halten es für falsch, die Einrichtung von Ganztagsschulen gewissermaßen von oben überstülpen zu wollen. Wir wollen, dass dies von unten wächst, dabei allerdings auch so weit wie möglich unterstützt und gefördert wird. Das ist nach unserer Überzeugung der richtige Weg.

(Zuruf der Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP – Gegenruf des Abg. Schmiedel SPD: Frau Berroth, was nennen Sie denn da immer für Zahlen?)

Er entspricht dem Ziel einer weiterhin in ihrer Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit gestärkten Schule.