Protocol of the Session on November 14, 2002

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Ausführungen meines Vorredners waren in geradezu begnadeter Weise unpolemisch.

(Abg. Blenke CDU: Qualifiziert!)

Lassen Sie mich doch einmal ausreden! Jetzt wollte ich Herrn Dr. Reinhart gerade loben – ehrlich –, und schon kommt Herr Blenke und ruft dazwischen.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU – Abg. Bebber SPD: Er kann halt nicht anders!)

Ihre Ausführungen, Herr Reinhart, waren erstaunlich unpolemisch und phasenweise so weihevoll, dass ich instinktiv auf den Einzug eines Streichorchesters gewartet habe.

(Abg. Theurer FDP/DVP: „Freude, schöner Götter- funken“!)

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Sie können ja anstimmen!)

Es gab ja nur ein oder zwei vorsichtig vorgetragene Passagen. Sie haben es nicht unterlassen können, sich an dem verehrten Herrn Bundeskanzler und an der deutsch-französischen Freundschaft zu reiben.

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Er ist halt über den Tisch gezogen worden!)

Ich will Ihnen einmal vorlesen, was der von Ihnen gepriesene Europaminister ausweislich des Berichts über die Beratungen des Ständigen Ausschusses ausgeführt hat:

Hierzu müsse die neue Bundesregierung baldmöglichst Verhandlungen mit Frankreich führen; denn nur dann, wenn auf diesen Gebieten bis Dezember einheitliche Auffassungen erreicht worden seien, könne eine Entscheidung des Europäischen Rats in Kopenhagen erwartet werden, die die Einhaltung des vorgesehenen Zeitplans gewährleiste.

Nun hat Herr Schröder das gemacht, was Herr Palmer wollte. Das ist auch wieder nichts.

(Zuruf von der CDU: Das „Wie“ ist immer entschei- dend!)

Es ist doch völlig klar, dass alles, was Ihnen und uns am Herzen liegt, nur auf der Basis einer Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich funktionieren wird. Für Sie wird kein Geheimnis sein, dass gerade wir Deutschen ein sehr viel stärkeres Interesse daran hatten, eine Agrarpolitik durchzusetzen, die mehr verbraucherorientiert ist, die mehr an ökologischer Qualität orientiert ist – das sage ich ganz offen. Wir haben unsere Bedenken in Teilen zurückgestellt, weil die deutsch-französischen Beziehungen als Voraussetzung für das Gelingen des europäischen Einigungsprozesses von uns höher bewertet worden sind als unsere fachlichen Anliegen. Dies sollten aber gerade Sie nicht kritisieren. Denn Sie sind in ökologischen Fragen ja wesentlich zurückhaltender und, gestützt auf die Bauernverbände, eigentlich immer viel verträglicher gewesen, was die bisherige europäische Agrarpolitik angeht. Sehen Sie es mir nach: Das war Ihre einzige Entgleisung.

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Das war die „Financial Ti- mes“, die ich zitiert habe!)

Ich finde, die Frage der deutsch-französischen Einigung über das Thema Agrarmarkt wird eigentlich eher von dem berührt, was Sie so zum Besten geben, während wir uns eher ein bisschen verbogen haben – wie gesagt wegen des überragenden Interesses, das wir am Zusammenhalt zwischen Deutschland und Frankreich und am europäischen Prozess insgesamt haben.

Nun will ich mich aber nicht in den weihevollen Sphären – ich glaube, da sind wir uns einig – bezüglich der europäischen Einigungsidee verirren, sondern insbesondere nach der opulenten Parteitagsrede des Kollegen Teufel von heute Morgen, die uns alle erschöpft hat – –

(Abg. Rüeck CDU: Begeistert! Zukunftweisend!)

Ich bin von meinem Vorredner deshalb so angenehm überrascht,

(Abg. Blenke CDU: Sie waren noch nie auf einem Parteitag bei uns!)

weil ich gedacht habe, dass wir jetzt in eine Phase ununterbrochenen Wahlkampfs eintreten. Gott sei Dank scheint Sie diese Phase noch nicht ganz erreicht zu haben.

Nach dieser opulenten Parteitagsrede sollten wir versuchen, über ein paar konkrete Dinge zu sprechen. Die Menschen erwarten von uns angesichts der tiefen ökonomischen Krise nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten westlichen Welt nicht parteipolitisches Gezänk, liebe Kolleginnen und Kollegen, sondern sie erwarten verantwortungsvolle Zusammenarbeit und Ringen um konstruktive Lösungen. Ich finde, dass wir wenigstens bei der Europafrage auf diesem Kurs bleiben sollten.

Sie haben es kurz angetippt: Wir sind in einer entscheidenden Phase, was die Ausarbeitung einer europäischen Ver

fassung angeht. Der Präsident des Konvents hat aus meiner Sicht erstaunlich weit reichende Vorschläge gemacht, was den europäischen Einigungsprozess betrifft. Ich halte dies für eine große Chance. Wir sollten diese große Chance den Menschen in unserem Lande darstellen. Was uns zurzeit im Mehltau von Negativerwartungen in der gesellschaftlichen Diskussion in Deutschland fehlt, sind positive Visionen, mit denen wir den Menschen signalisieren können, dass es berechtigte Zukunftshoffnungen gibt. Eine der ganz positiven Visionen, die Zukunftshoffnungen auslösen können, ist in der Tat der europäische Einigungsprozess. Es ist völlig klar: Es wird nicht möglich sein, auf der Ebene der alten Nationalstaaten, auch nicht der mittelgroßen Nationalstaaten, in den anarchischen Prozess auf den internationalen Finanzmärkten Regeln einzuziehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es wird auch nicht oder nur sehr begrenzt möglich sein, sich mit nationaler Konjunkturpolitik aus den gegenwärtigen Schwierigkeiten zu befreien. Was wir brauchen, ist eine gemeinsame europäische Politik für Wachstum und Beschäftigung. Nur die Europäische Union insgesamt ist in der Lage, eine Finanz- und Wirtschaftspolitik zu formulieren und durchzusetzen, die tatsächlich wieder Wohlstand, Prosperität und auch mehr Sicherheit für die Menschen garantiert. Wir sollten unserer Bevölkerung sagen, dass das Vorantreiben der europäischen Einigungsidee eine der zentralen Voraussetzungen dafür ist, dass es auch mit den einzelnen Nationalstaaten in Europa wirtschaftlich wieder aufwärts geht.

(Beifall bei der SPD)

Im Übrigen herrscht auch in Deutschland ein großes Gejammer über die Alleingänge der Vereinigten Staaten und ihr imperiales Gehabe. Ich spreche das ganz offen an. Ich glaube, dass da auch schwere Fehler gemacht werden. Nur: Mit dem Gejammer fange ich nichts an. Das Gejammer müsste in eine positive Antwort münden. Die positive Antwort – das sage ich sehr klar – ist, dass wir die Europäische Union sehr rasch zu einem föderalen Bundesstaat entwickeln müssen, der über ein eigenes Konzept der Außen- und Sicherheitspolitik verfügt, der eine europäische Armee aufbaut, der ein europäisches Grenzregime hat, der eine europäische Grenzpolizei hat und der als ein Block auch in den internationalen Organen auftritt.

(Beifall bei der SPD)

Die Zukunft des Nordatlantischen Verteidigungspakts, nachdem der große, böse Feind Warschauer Pakt weggefallen ist, kann nur eine Zukunft der gleichberechtigten Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten sein. Das ist die konstruktive Antwort, anstatt sich wehleidig zurückzuziehen und zu sagen: „Das ist alles ganz schlimm, was die Amerikaner da treiben.“ Das ist zum Teil auch schlimm. Die Antwort muss sein: Europa muss auch außenpolitisch und militärisch so selbstbewusst in seinen Kräften sein können, dass es als gleichberechtigter Partner auftreten kann. Das ist die Antwort, die wir dieser internationalen Situation schulden, die wir heute so sehr beklagen.

(Beifall bei der SPD)

Ich finde es richtig, lieber Kollege, dass Sie und auch der ehrenwerte Herr Ministerpräsident immer wieder betonen, wie wichtig es angesichts des europäischen Verfassungsprozesses sei, den föderativen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten. Aber das darf nicht die ausschließliche Botschaft sein, die von uns ausgeht. Vor allem ist es eine Botschaft, die, denke ich, immer so abwartendskeptisch wahrgenommen wird. Wenn ich die Diskussion höre, auch die entsprechenden Beiträge des Ministerpräsidenten, habe ich immer das Gefühl, man hat eigentlich Angst vor diesem europäischen Einigungsprozess. Man ist ängstlich darauf bedacht, keine Kompetenzen zusätzlich abgeben zu müssen. Man ist ängstlich darauf bedacht, sich irgendwelche Klagerechte zu sichern.

Ich sehe das völlig anders. Ich sage Ihnen – da haben wir ja vielleicht eine gemeinsame Meinung –, wenn es eine Chance gibt, den Fehlentwicklungsprozess im deutschen Bundesstaat mit einer immer stärkeren Verlagerung auf den Bund und einer Auflösung von Kompetenzen der Länder zu korrigieren, dann gibt es diese Chance genau jetzt, genau im Zusammenhang mit diesem Prozess der Ausarbeitung einer europäischen Verfassung. Jetzt ist der Moment, in dem die Zuständigkeiten neu überdacht werden müssen.

Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt Tempo und Druck machen – wir werden ja auch einen interfraktionellen Antrag haben –, um zu einer Neubefestigung des föderativen Aufbaus der Bundesrepublik Deutschland im Zuge dieses europäischen Einigungsprozesses zu kommen. Da können wir in der Tat eine riesengroße Koalition schließen – das ist mein Eindruck, das deutet sich auch an –, aber, wie gesagt, nicht aus Angst vor Brüssel, sondern aus der Erkenntnis, dass der Verfassungsprozess in Europa die Voraussetzung und die Chance dafür ist, dass wir das, was an Fehlentwicklungen in Deutschland stattgefunden hat, auch wieder korrigieren werden.

Um es unter Bezug auf die aktuelle Finanzdebatte konkret zu machen, lieber Kollege: Ich habe ein Interview des Herrn Landtagspräsidenten gelesen. Der Tenor war: „Am besten wäre es, wir hätten wieder autonome Steuern für die Länder.“

(Abg. Beate Fauser FDP/DVP: Das wäre auch am besten!)

Ein kühnes Wort! Das unterschreibe ich. Nun frage ich Sie einmal: Wie wäre es denn, wenn Sie den Vorschlag anderer Länder zur Wiedereinführung der Vermögensteuer und das Thema Erbschaftsteuer zum Gegenstand der Länderautonomie machen würden?

(Zuruf der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Ich mache Ihnen einmal diesen Vorschlag. Wenn es denn so wichtig ist – das finde ich auch –, wieder zunehmend eine eigene Steuerhoheit der Länder zu begründen, um den föderativen Aufbau zu stärken, dann lassen Sie uns doch die Vorschläge, die jetzt gemacht werden, so aufgreifen, dass wir sagen: Die Kompetenz zur Erhebung und Festsetzung von Vermögen- und Erbschaftsteuer geht ausschließlich an die Länder.

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Ausschließlich! Sofort einverstanden! – Abg. Seimetz CDU: Einverstan- den!)

Dann ist es ja prima, dann haben wir an dieser Stelle einen interessanten Einigungsprozess erreicht.

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Steuerstandortwettbewerb machen wir dann!)

Ich weiß nicht, ob es bei Ihnen zentralistische Denkverbote gibt. Bei uns gibt es keine zentralistischen Denkverbote. Deswegen sage ich Ihnen ausdrücklich: Wir sind in einer wirtschaftlichen Situation, in der es nicht denkbar ist, die Arbeitnehmereinkommen steuerlich stärker zu belasten. Es ist nicht denkbar, Leistung insgesamt steuerlich stärker zu belasten. Wir müssen alle, die leistungsbereit sind –

(Abg. Theurer FDP/DVP: Auch Denkverbote!)

das gilt über die ganze Gesellschaft hinweg –, steuerlich entlasten und dürfen sie nicht belasten.

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Sie machen aber das Ge- genteil in Berlin!)

Aber es ist ja nun so, werter Herr Kollege, dass die Einkommens- und vor allem die Vermögensentwicklung in der Gesellschaft in Deutschland, wie übrigens auch in Amerika, in Frankreich und in England, außerordentlich auseinander gedriftet ist. Deswegen: Wenn der Staat nun einmal mit den gegenwärtigen finanziellen Schwierigkeiten zu ringen hat, kann die Antwort sicherlich nicht darin bestehen, den Faktor Arbeit hoch zu belasten.

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Richtig!)

Sie kann auch nicht darin bestehen, unternehmerische Initiative zu belasten,

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Auch richtig!)