Protocol of the Session on November 7, 2024

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD – Beifall von Dr. Robbin Juhnke (CDU) und Johannes Kraft (CDU)]

Vielen Dank, Herr Kollege! – Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Geisel jetzt das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Wir sind das Volk!“ – Das war der Ruf, mit dem damals die Opposition, die Bürgerrechtler auf die Straße gingen. Und dieser Ruf symbolisierte den unbedingten Veränderungswillen. Die unten wollten nicht mehr, die oben konnten nicht mehr.

Der Mauerfall und danach die Einheit Deutschlands waren für mich das Glück meines Lebens.

[Beifall bei der SPD und der CDU – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Ich werde bei solchen Gelegenheiten emotional. Aber man muss sagen, für meine Generation und mich hat sich die Welt verändert. Es haben sich Perspektiven aufgetan, an die ich vorher nie zu glauben wagte. Ich konnte sagen, was ich wollte. Ich musste nicht verbergen, was ich denke. Ich konnte lesen, was ich wollte. Ich konnte reisen. Ich hatte, ich habe ein Leben in Freiheit.

Heute Morgen bei der Ausstellungseröffnung ist aber auch deutlich geworden, um welchen Preis die mutigen Frauen und Männer damals, 1989, auf die Straße gingen, welches Risiko sie eingingen, mit welchem Mut sie unterwegs waren. Ich glaube, deswegen kann man dieses Glück des Lebens, diese neuen Perspektiven nicht feiern und nicht benennen, ohne tiefen Respekt zu zollen vor den Menschen, die damals den Mut hatten, unter Einsatz ihres Lebens, unter Einsatz ihrer Lebensperspektiven, mit großer Ungewissheit, was die Zukunft bringen wird, auf die Straße zu gehen und für die Demokratie und für die Freiheit zu kämpfen. Dafür bin ich sehr dankbar.

[Beifall bei der SPD und der CDU – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Auch heute, 35 Jahre nach dem Mauerfall, wirkt die Geschichte in den Menschen weiter. Es gibt weiterhin Unterschiede zwischen ostdeutschen Bundesländern und westdeutschen Bundesländern, und in den letzten Jahren hat die Euphorie nachgelassen. Und manchmal, wenn ich mit Menschen rede, die da eher entmutigt und skeptisch sind, denke ich mir: Mensch! Ihr müsstet euch mal die Bilder von damals anschauen, wie es 1989/90 eigentlich in der DDR aussah, und wie es heute aussieht. Dann wird deutlich, welche materiellen Veränderungen es in den neuen Bundesländern gegeben hat, welchen wirtschaftlichen Aufschwung es in den neuen Bundesländern gegeben hat.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD – Beifall bei der CDU]

Wir hatten in den vergangenen Monaten im Land eine politische Diskussion, auch ausgelöst von verschiedenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die so eine Stimmung erzeugt: Es soll wieder so schön werden, wie es

(Andreas Otto)

früher nie war. – Da sage ich mir: Na ja, ist schon gut, wenn wir uns noch an Realitäten erinnern, wie ein Leben in Unfreiheit, ein Leben ohne Demokratie war und welche Auswirkungen und Einschränkungen das für die Menschen hatte.

Aber wahr ist auch: Nicht alle Hoffnungen, nicht alle Träume haben sich tatsächlich erfüllt. Wir haben 34 Jahre gebraucht bis zur Rentenangleichung zwischen Ost und West. Und auch zum heutigen Tag gibt es unterschiedliche Gehälter, unterschiedliche Lebenssituationen in Ost und West. Das haben wir noch nicht überwunden. Auch die Verteilung der Eliten in der Führung von Wirtschaft, Politik, Kultur, Universitäten ist extrem ungleich. Und wenn wir uns die geringe Eigentumsquote in Ostdeutschland anschauen, und wenn wir uns anschauen, wie das mit der Vererbung von Vermögen aussieht, weil man in der DDR im Regelfall keine Vermögen anhäufen konnte, dann wird auch klar, dass die Spuren der fehlenden Einheit, der Trennung Deutschlands noch Jahrzehnte fortwirken werden. Es gibt tatsächlich noch keine gleichen Lebensverhältnisse.

[Beifall bei der CDU – Beifall von Anne Helm (LINKE) und Tobias Schulze (LINKE)]

Aber wir geraten immer wieder in Gefahr, die 35 Jahre Mauerfall nur historisch zu betrachten. Dabei ist es eine Herausforderung an die Demokratie, vor der wir heute stehen. Warum werden denn die Populisten immer stärker? Warum gerät denn die Demokratie unter Druck? Weil wir seit geraumer Zeit Probleme zu oft nur beschreiben, sie aber nicht lösen. Damit erweckt die Demokratie den Eindruck, schwerfällig zu sein, sich treiben zu lassen, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. Und das ist ein Auftrag an uns demokratische Parteien, an uns alle. Bei allen politischen Unterschieden, die es zwischen uns gibt, bei allen Gräben, die es bei uns zu überwinden gibt: Wir haben gemeinsame Themen, bei denen wir zusammenstehen müssen, bei denen wir die Gräben überwinden müssen, um Vertrauen nicht zu verspielen, um Vertrauen nicht zu verlieren, sondern Vertrauen aufrechtzuerhalten und zu gewinnen. Einige dieser Themen will ich Ihnen hier nennen.

Als Erstes das Thema Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Was passiert mit unserer Sicherheit? Was passiert mit der Sicherheit in Europa nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022? Der Bundeskanzler hat es im Bundestag eine Zeitenwende genannt. Und genau das ist es. Ich habe mir überlegt: Rede ich heute eigentlich nur über den historischen Mauerfall, oder erwähne ich auch den Ausgang der US-Wahl am Dienstag dieser Woche? Und ich habe mich entschlossen, das zu tun, weil es nämlich für uns auch Konsequenzen hat. Die Zeitenwende ist eine wirkliche Zeitenwende. Europa muss stärker – auch sicherheitspolitisch – zusammenarbeiten. Das ist eine Herausforderung für uns. Die Demokratie in Europa muss sich selbst wehrhaft machen. Wir

haben Verbündete in der NATO, wir haben Verbündete in den USA, aber die nächsten Jahre werden auch deutlich machen, dass wir stärker auf uns selbst angewiesen sind. Das heißt, die Sicherheitsausgaben, die Verteidigungsausgaben, die Ausgaben, die wir benötigen, um unsere Bundeswehr verteidigungsfähig zu machen, werden wir alle miteinander leisten müssen. Und das werden wir.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD – Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN – Beifall von Bettina Jarasch (GRÜNE) – Carsten Ubbelohde (AfD): Das fällt Ihnen aber spät ein!]

Das ist nicht schön, das wird Geld kosten, und es wird Herausforderungen geben, aber Freiheit und Demokratie müssen wehrhaft sein. Unsere offene Gesellschaft muss sich verteidigen können. Im Moment führt die Ukraine für uns diesen Freiheitskampf in Europa. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU, den GRÜNEN und der LINKEN]

Zweiter Punkt ist der Zusammenhalt in der Gesellschaft. Deutschland ist in der sozialen Marktwirtschaft stark geworden und durch sozialen Ausgleich und durch Teilhabe. In den letzten Jahrzehnten hat sich aber die Schere zwischen Arm und Reich vergrößert. Wenn man sich anschaut, wie das Einkommen aus Arbeit stagniert und das Einkommen aus Vermögen exponentiell ansteigt, dann wird klar: Das trennt unsere Gesellschaft, das treibt die Gesellschaft auseinander. Wir können in den USA sehen, wohin das führt: zu einer gespaltenen Gesellschaft, zu Unfähigkeit zu Kompromissen, zu fehlendem demokratischen Dialog. Und das nutzen Populisten, die von diesem Streit profitieren.

[Zuruf von der AfD: Das ist Ihnen ja auch schon gelungen! – Zuruf von Frank-Christian Hansel (AfD)]

Wir müssen die Gesellschaft sozial zusammenhalten.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU, den GRÜNEN und der LINKEN]

Drittens: Migration. Deutschland ist ein Einwanderungsland, und das muss auch so sein. Die Geburtenrate beträgt aktuell 1,46. Das ist seit Jahrzehnten so, und die Hoffnung darauf, dass sich das ändern könnte, ist ein Irrtum. Wer vor 20 Jahren nicht geboren wurde, kriegt heute keine Kinder.

[Zuruf von Carsten Ubbelohde (AfD)]

Und das heißt: Wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen, wenn wir die Sozialsysteme leistungsfähig halten wollen, dann brauchen wir Einwanderung.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Beifall von Aldona Maria Niemczyk (CDU) – Thorsten Weiß (AfD): So ein Schwachsinn!]

Wer von Remigration fantasiert, was unanständig und rassistisch ist, der gefährdet außerdem den Wohlstand Deutschlands. Das dürfen wir nicht zulassen.

[Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Deutschland hat seit vielen Jahrzehnten eine millionenfache Erfolgsgeschichte bei der Einwanderung, eine millionenfache Erfolgsgeschichte bei der Integration.

[Thorsten Weiß (AfD): Vor allem seit 2015, Herr Kollege, nicht? Eine einzige Erfolgsgeschichte! – Weitere Zurufe von der AfD]

Für diese notwendige Migration ist es aber wichtig, dass wir eine gemeinsame Integrationserzählung finden. Die fehlt heute noch. Wir müssen deutlich machen, dass wir eine geordnete Einwanderung brauchen, eine tragfähige Infrastruktur, eine Anerkennung von Abschlüssen, eine Ausbildung von Fachkräften und eine gemeinsame gesamteuropäische Asylpolitik, die von uns aber auch durchgesetzt werden muss.

[Beifall bei der SPD und der CDU – Beifall von Sebastian Schlüsselburg (LINKE)]

Ich komme zum Schluss: Was ist mir aus dieser Zeit des Mauerfalls vor allem in Erinnerung geblieben? – Die Aufbruchsstimmung; der Mut; die Veränderungsbereitschaft; die Freude am Neuen. Das war die Kraft, die sich zeigt, wenn Menschen ihr Leben demokratisch verändern wollen. Wir sind das Volk. Wir müssen uns an die Kraft erinnern, auf die Kraft besinnen – die demokratische Kraft, die eine Gesellschaft entfalten kann, wenn sie Veränderung will, wenn sie zu demokratischen Werten stehen will. Das ist der Auftrag aus 35 Jahren Mauerfall. Das ist das Vermächtnis von 35 Jahren Mauerfall.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Darum gibt es die AfD, genau darum! – Zuruf von Marc Vallendar (AfD)]

Das ist die Aufgabe, die vor uns steht für die Zukunft, für die Bewahrung der Demokratie. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD, der CDU, den GRÜNEN und der LINKEN]

Vielen Dank, Herr Kollege! – Für die Linksfraktion hat die Kollegin Helm das Wort.

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Sehr geehrte Damen und Herren! Vor 35 Jahren wurde in Berlin Geschichte geschrieben. Der 9. November 1989 markierte einen

historischen Punkt, der nicht nur für Deutschland, sondern auch für Osteuropa ein zentraler Wendepunkt war. Natürlich haben die Berlinerinnen und Berliner das nicht alleine geschafft, sondern gemeinsam mit den Menschen, die im Herbst 1989 durch friedliche Demonstrationen den Mauerfall herbeigeführt und so Geschichte geschrieben haben, und die wiederum gemeinsam – auch das ist heute schon betont worden – mit denjenigen, die ihnen vorangingen, beispielsweise in Polen, in Tschechien oder in China.

Dieser Tag öffnete die Tür zu einer anderen Zukunft. Wie diese Zukunft genau aussehen sollte, darüber war man sich nicht unbedingt einig, aber eines war allen gemeinsam klar: So wie es war, so konnte es nicht bleiben. Es gab ein Gefühl der Selbstermächtigung. An den Runden Tischen wurde rege diskutiert, wie wir demokratisches Zusammenleben organisieren wollen. Plötzlich schien alles möglich. Ich danke Rainer Eppelmann, dass er das vorhin so eindrücklich geschildert hat. Ich finde, das waren wirklich spannende Ausführungen; auch für die Nachgeborenen unbedingt lohnenswert, sie nachzuhören.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN – Beifall von Burkard Dregger (CDU)]

Trotzdem gibt es 35 Jahre später so ein Gefühl, bei dem sich viele Menschen fragen: Sind wir eigentlich zufrieden mit dieser neuen Zukunft? Ist es das, wofür wir damals auf die Straße gegangen sind? – Jahrestage wie heute werden meist dafür genutzt, um das Positive der Geschichte herauszustellen, um Einigkeit und Wiedervereinigung zu proklamieren und die demokratischen Errungenschaften zu feiern. Das ist auch gut so, denn wir brauchen diese Erzählung von Mut und Demokratie, von Veränderung und Entwicklung, von Kämpfen und Siegen für Recht und Freiheit. Deswegen danke ich auch meinen Vorrednern, dass sie dieses Gefühl hier noch mal wachgerufen und betont haben.

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass es richtig ist, gegen Unterdrückung aufzubegehren, und dass Demokratie nur durch Demokratinnen und Demokraten lebt. Die Geschichte des Mauerfalls ist der Beweis dafür, dass Veränderungen möglich sind, wenn wir zusammenstehen und uns für Gerechtigkeit einsetzen.

Wir haben aber nicht das Recht zu vergessen, dass nicht alle in Deutschland unbeschwert den 9. November feiern können, weil mit ihm eben auch die Pogrome 1938 verbunden sind, die man als Auftakt der Shoah begreifen kann.

Auch die Erzählung von der Friedlichen Revolution, dem Mauerfall und der Wiedervereinigung ist eine unvollständige, wenn sie ausschließlich als Erfolgsgeschichte erzählt wird. Die Wende war für viele ein unfassbarer

(Andreas Geisel)

Aufbruch – Andreas Geisel hat das auch gerade für sich persönlich beschrieben –; ein Aufbruch in eine neue, gemeinsame Zukunft. Gleichzeitig bedeutete sie für viele aber auch schmerzhafte Umbrüche im eigenen persönlichen Leben, einen Aufbruch ins Ungewisse. So groß die Freude und die Hoffnung damals waren, sie sind verbunden mit Enttäuschungen, mit Versäumnissen und nicht eingehaltenen Versprechungen.